Rezension über:

Uwe Fuhrmann: "Frau Berlin". Paula Thiede (1870-1919). Vom Arbeiterkind zur Gewerkschaftsvorsitzenden, Konstanz: UVK 2019, 228 S., ISBN 978-3-8676-4905-6, EUR 17,00
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Rezension von:
Jana Günther
Darmstadt
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Empfohlene Zitierweise:
Jana Günther: Rezension von: Uwe Fuhrmann: "Frau Berlin". Paula Thiede (1870-1919). Vom Arbeiterkind zur Gewerkschaftsvorsitzenden, Konstanz: UVK 2019, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 9 [15.09.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/09/35161.html


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Uwe Fuhrmann: "Frau Berlin"

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Die Geschichte der historischen deutschen Frauenbewegung sowie die der Arbeiterbewegung gilt gemeinhin als historisch gut erschlossen. Gleichwohl lässt sich in beiden Forschungsfeldern seit den 1990er Jahren eine auffällige Forschungslücke ausmachen: Das Engagement und der Einfluss von Arbeiterinnen in beiden Bewegungen werden vergleichsweise weniger detailliert beleuchtet.

Mit Uwe Fuhrmanns Werk zur ersten Gewerkschaftsvorsitzenden Paula Thiede (1870-1919) liegt eine historische Studie vor, die eine eindrucksvolle Biografie einer Arbeiterin, Mutter und Gewerkschafterin aufarbeitet. Die Studie zeigt anschaulich alle Höhen und Tiefen der zu der Epoche überlebensnotwendigen gewerkschaftlichen Selbstorganisation und sozialpolitischen Selbsthilfe innerhalb der Arbeiterinnen- und Arbeiterschaft.

Der Autor wählt eine multiperspektivische Darstellung und eine intersektionale Betrachtungsweise seiner Ergebnisse. Fuhrmann verbindet nachvollziehbar und thematisch sinnvoll biografische Notizen Paula Thiedes und lokalhistorische Gewerkschaftsentwicklungen in Berlin mit Einschätzungen zu den Geschlechter- und Klassenverhältnissen ihrer Zeit. Dies macht die Publikation disziplinübergreifend für die Gewerkschaftsforschung genauso interessant wie für die Geschlechterforschung.

Nach der Kontextualisierung von Kindheit und Jugend Thiedes, eine von Verzicht und familiärer Not geprägte Zeit, die aber auch die folgenden "kämpferische(n) Konsequenzen" (41) bewirkten, geht der Autor den Organisierungsbestrebungen der Arbeiterinnen- und Arbeiterschaft insgesamt sowie von Thiede persönlich im Zeitraum von 1891 bis 1894 nach. Die Idee der Selbsthilfe und der "Wille zur Verbesserung der eigenen Lage" der proletarischen Bewegung mündete zumeist in Gewerkschaftsgründungen (43). Diese Verbände und Vereine, die sich auf die Verbesserung der Lage in der Arbeiterinnen- und Arbeiterschaft konzentrierten, waren während der Sozialistengesetze (1878 bis 1890) nicht zwangsläufig vom Verbot betroffen. Gleichwohl wurde ein Großteil der Gewerkschaften während dieser Zeit aufgelöst. Auch wurde es Frauen aufgrund der preußischen Vereinsgesetzgebung zusätzlich schwergemacht, sich zu organisieren.

Nach dem Fall der Sozialistengesetze 1890 kam es zu einer Gründungswelle neuer Organisationen, unter diesen war auch der für Thiede bedeutende Verein der Arbeiterinnen an Buch- und Steindruck-Schnellpressen. Der Verein diente ebenfalls der Hilfe zur Selbsthilfe. Die Gründerinnen hatten nämlich die Schaffung eines unabhängigen Stellenvermittlungs- und Arbeitsnachweiswesens als Zielsetzung. Den sich durch Willkür, Respektlosigkeiten und Bestechungen 'auszeichnenden' Praxen des eingesetzten Stellenvermittlers sollte so Einhalt geboten oder diese prinzipiell vermeidbar werden. Bei der Gründung selbst waren 450 Kolleginnen zugegen, auch aus heutiger Sicht ein bemerkenswerter Mobilisierungserfolg.

Fuhrmann verweist in der Folge auf eine relevante Leerstelle der Gewerkschaftsforschung hin: Die Arbeitsnachweise und die Arbeitsvermittlung der Gewerkschaften in den Jahren nach den Sozialistengesetzen bis zum Ersten Weltkrieg seien "durch den Lauf der Geschichte gründlich verschüttet worden" (52). Organisierte Selbsthilfe als "Kampfmittel" verbesserte nicht nur die Erwerbsarbeitsbedingungen, sondern sorgte auch für eine Zunahme der gewerkschaftlichen Mobilisierung in der Arbeiterinnen- und Arbeiterschaft.

Die 22-jährige Paula Thiede stieß während des Arbeitskampfes der Buchdrucker 1890/91 zum Verein, wurde bereits drei Jahre später Vorsitzende desselben und trug maßgeblich zu dessen Wiederaufbau und Erfolg bei künftigen Streikaktionen und Aussperrungen bei. Auch ist es ihrer Organisationskompetenz zu verdanken gewesen, dass die komplizierte "Zentralisation" (91) zu einem geschlechterübergreifenden überregionalen Zentralverband mit anderen Buchdruckergewerkschaften gelang. Dieser wurde nach Vorschlag Thiedes Verband der in Buchdruckereinen und verwanden Gewerben beschäftigten Hilfsarbeiter und Arbeiterinnen (VBHi) genannt. Bei ihrer Wiederwahl als Vorsitzende des VBHi 1902 wurde ihr zudem die Redaktionsverantwortung der Verbandszeitschrift Solidarität übertragen.

Im Kapitel "Geschlecht und Klasse (um 1900)" (63-78) nimmt der Autor eine kritische Auseinandersetzung mit den kaiserzeitlichen Geschlechter- und Klassenverhältnissen vor dem Hintergrund der Biografie Thiedes vor. So hebt Fuhrmann dezidiert hervor, dass die patriarchalen Geschlechtervorstellungen zwar persistent sowie ideologisch untermauert und auch in der Gewerkschaftsorganisation sowie Arbeiterbewegung zu finden gewesen seien. Diese wurden jedoch - nicht zuletzt durch Aktivistinnen der proletarischen Frauenbewegungen wie Clara Zetkin, Emma Ihrer oder Ottilie Baader u. v. m. - zunehmend mit "kategorisch formulierten Emanzipationsbestrebungen konfrontiert" (65). Thiede selbst thematisierte bereits in dieser Dekade explizit die "Doppel- und Dreifachbelastung" von Arbeiterinnen (67). Fuhrmann nutzt im gleichen Kapitel die Gelegenheit, Fragen von sexueller Selbstbestimmung und Familienplanung jener Zeit zu erörtern und den Diskurs zum Gebärstreik als Care-Debatte historisch einzuordnen. Dies ist insofern interessant, als die in der Geschlechter- und Familiensoziologie geführte Care-Forschung hier anschlussfähig ist und sich hier für historische Diskursanalysen neue Perspektiven ergeben (können).

Dem Autor gelingt es, nicht zuletzt durch seine ausgiebige Quellenarbeit, die Jahre der Organisation einhergehend mit der Gründung des zentralen Verbands der Buch- und Steindruckerei-Hilfsarbeiter und -Arbeiterinnen Deutschlands und die biografischen Stationen von Thiedes politischer Sozialisation facettenreich nachzuzeichnen. Zwar sind in der Publikation einige narrative Redundanzen bemerkbar, allerdings bietet das den Vorteil, dass einzelne Kapitel für sich stehen können und die biografische und organisatorische Chronologie aus unterschiedlichen thematischen Blickwinkeln darstellen. Fuhrmann analysiert beispielsweise im letzten Viertel der Publikation noch den Führungsstil Thiedes und ihre Netzwerkarbeit gesondert. Hier wird erneut besonders deutlich, mit welchem kommunikativen und vorausschauenden Organisationstalent die erste deutsche Gewerkschaftsvorsitzende agierte. Die Erfolgsgeschichte des Zentralverbandes sei deshalb nicht zuletzt auf ihr Können und Engagement zurückzuführen.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Publikation Fuhrmanns dazu beiträgt, Lücken in der Gewerkschafts- und Arbeiterbewegungsforschung zu füllen. Der interdisziplinäre Zugang sowie die intersektional orientierte Analyse der Quellen ermöglichen einen umfassenderen Einblick in die Geschlechterverhältnisse sowie in das Engagement von proletarischen Frauen in sozialen Bewegungen in der Zeit des wilhelminischen Kaiserreichs.

Jana Günther