Filip Gańczak: Jan Sehn und die Ahndung der Verbrechen von Auschwitz. Eine Biographie. Aus dem Polnischen von Lothar Quinkenstein, Göttingen: Wallstein 2022, 238 S., ISBN 978-3-8353-5321-3, EUR 25,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Auch wenn die Justiz gemeinhin als Apparat gilt, dessen "Mühlen" wie von selbst "mahlen", waren es gerade bei der Verfolgung der NS-Verbrechen häufig engagierte Einzelpersonen, die erst dafür sorgten, dass die Täter nicht straffrei davonkamen. Überlebende wie Hermann Langbein und Simon Wiesenthal oder ehemalige Exilanten wie der Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer waren es, die Ermittlungen anstießen, Beweise sammelten und die Täter vor Gericht brachten. In Polen gehörten Staatsanwalt Jerzy Sawicki, der Vorsitzende der Hauptkommission zur Untersuchung der Naziverbrechen in Polen Czesław Pilichowski und eben Jan Sehn, Untersuchungsrichter in Krakau, zu diesem Kreis der mitunter reißerisch als "Nazi-Jäger" bezeichneten Personen. Filip Gańczak, Journalist, promovierter Politikwissenschaftler und Experte insbesondere zur deutsch-polnischen Nachkriegsgeschichte, geht in seiner sehr gut lesbaren und mit 182 Textseiten erfreulich schmalen Studie dem Leben und Wirken Sehns nach, dem in Polen ebensolche Bedeutung zukam wie Fritz Bauer in der Bundesrepublik. Mit Bauer hatte Sehn nicht nur die Mitwirkung in gleich mehreren großen Verfahren gegen NS-Verbrecher gemeinsam; zu denjenigen, die Sehn verhörte, zählten unter anderem der "Schlächter von Płaszów" Amon Göth, Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß, Mitglieder der Auschwitzer Wachmannschaft um Höß' Nachfolger Arthur Liebehenschel und Josef Bühler, Staatssekretär in der Regierung des Generalgouvernements und Stellvertreter von Hans Frank. Auch die Absicht, nicht nur individuelle Nachweise für die Schuld der Angeklagten zu erbringen, wie es das Strafrecht vorsah, sondern vor allem für die Öffentlichkeit das Funktionieren des verbrecherischen Systems im KZ Auschwitz und des Nationalsozialismus insgesamt zu zeigen, verband Sehn und Bauer.
Grundlage des Buches sind vor allem die Ermittlungsakten, aber auch persönliche Erinnerungen von Weggefährten sowie intensive Archivrecherchen. Auf diese Weise gelingt es dem Verfasser, neue Erkenntnisse zur (Rechts-)Geschichte der Aufarbeitung von NS-Verbrechen zu erzielen - angesichts der nach wie vor eher dürftigen Forschungslage zu den polnischen NS-Verfahren ist das ein großes Verdienst der Arbeit. So untersucht Gańczak etwa Arbeitsweise und organisatorische Probleme der im besetzten Deutschland tätigen Polnischen Militärmission zur Untersuchung der deutschen Kriegsverbrechen, deren Mitglied Sehn war.
Der Aufbau der Arbeit orientiert sich an Sehns Ermittlungen, die insgesamt den größten Raum einnehmen. Das ist innovativ, wird damit doch das sonst übliche chronologische Schema einer Biografie verlassen. Dem Verfasser gelingt es, die Verteidigungsstrategien der Angeklagten deutlich werden zu lassen, die sich auf angebliche Unwissenheit oder auf Gedächtnislücken beriefen, die Verantwortung auf Vorgesetzte abwälzten oder vermeintliche "Milde" gegenüber Polen vorgaben. Anhand von Aussagen ehemaliger Häftlinge entsteht ein plastisches Bild von den Verbrechen. Das ist zwar nicht neu, aber in dieser Dichte selten zu lesen. Auch Sehns Strategie, die Beschuldigten zum Reden zu bringen, indem er sie gut behandeln ließ und ihr Vertrauen gewann, zeigt der Verfasser. Auf diese Weise veranlasste Sehn Höß, einen ausführlichen Bericht über Auschwitz niederzuschreiben, für dessen Veröffentlichung als "autobiographische Aufzeichnungen" des KZ-Kommandanten der Jurist ebenfalls sorgte - in der Ausgabe des Münchner Instituts für Zeitgeschichte eines der meistgelesenen Bücher über den Holocaust in der "alten" Bundesrepublik. [1] Auch geht Gańczak auf die zunehmende politische Instrumentalisierung der Verfahren gegen deutsche NS-Verbrechen im stalinistischen Polen ein, die Sehn mittrug.
Die Biografie flicht der Verfasser meist in Rückblenden ein - etwa auf Sehns Referendarszeit im Justizdienst des autoritären Vorkriegsregimes. Damals wirkte Sehn als Protokollführer an politischen Verfahren gegen Sozialisten mit. Dass ihm das nach dem Krieg ebenso wenig zum Verhängnis wurde wie seine Tätigkeit in der polnischen Verwaltung des Generalgouvernements während des Zweiten Weltkriegs, verdankte er auch persönlichen Beziehungen in die Spitze der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, etwa zu Langzeitministerpräsident Józef Cyrankiewicz.
Gańczak beginnt sein Buch mit den Ermittlungen in Auschwitz 1945; das Vernichtungslager in Oberschlesien nahm eine besondere Rolle in der Arbeit Sehns ein, der nicht nur Mitglied der sogenannte Auschwitz-Kommission war, die die dort verübten Verbrechen untersuchte, sondern auch Leiter der Dokumentationsstelle des 1947 gegründeten Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau. Sehn sammelte unzählige Unterlagen über Auschwitz und andere NS-Verbrechenskomplexe - anschaulich schildert Gańczak die oft abenteuerliche und für die Ermittlungsbeamten lebensgefährliche Suche in überfluteten Kellern und einsturzgefährdeten Ruinen. Darüber hinaus veröffentlichte Sehn 1946 eine der ersten Studien über Auschwitz, die auch heute noch lesenswert ist. [2]
Sehn machte sich zudem um die deutsch-polnischen Rechtsbeziehungen und die Aufarbeitung der NS-Verbrechen in der Bundesrepublik verdient. Als Fritz Bauer ab Ende der 1950er Jahre gegen die Wachmannschaft von Auschwitz ermitteln ließ, war es Sehn, der den Staatsanwälten aus Frankfurt die Einsichtnahme in Originaldokumente in polnischen Archiven ermöglichte und den Ortstermin des Gerichts in Auschwitz vermittelte. Auch fuhr er mehrfach zu Besprechungen nach Westdeutschland. 1965 reiste Sehn erneut nach Frankfurt, um an der Eröffnung des zweiten Auschwitz-Prozesses teilzunehmen und sich mit westdeutschen Ermittlungsbeamten zu treffen. Hier starb er am 12. Dezember 1965 an einem Herzinfarkt. Mit der Studie von Gańczak liegt nun ein Buch vor, das den zu Unrecht weitgehend vergessenen Juristen und Kriminalisten würdigt.
Anmerkungen:
[1] Rudolf Höss: Kommandant in Auschwitz, eingeleitet und kommentiert von Martin Broszat, Stuttgart 1958. Seither sind 31 Auflagen erschienen, zuletzt 2023.
[2] Jan Sehn: Obóz koncentracyjny i zagłady Oświęcim [Das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz], in: Biuletyn Głównej Komisji Badania Zbrodni Hitlerowskich w Polsce 1 (1946), 61-130.
Maximilian Becker