Andreas Wirsching: Die Stunde des Kommunismus. Zur Theorie und Praxis 1900-1945 (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte; Bd. 128), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2024, 173 S., ISBN 978-3-11-138227-2, EUR 24,95
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Auch nach der Zeit des "kleinen Booms" [1] in der Forschung zum historischen Kommunismus erscheinen weiterhin Studien, die sich dem Phänomen als sozialer und transnationaler Bewegung nähern und das Verhältnis von Theorie und Praxis ausloten. Dabei hat sich insbesondere jener Ansatz als fruchtbar erwiesen, der die Untersuchung der Akteursebene mit der Struktur- und Sozialgeschichte verknüpft und sich zu einer Gesellschaftsgeschichte des Kommunismus formt. Andreas Wirschings Aufsatzsammlung reiht sich in diesen steten Strom ein und ist dort am überzeugendsten, wo solch eine Verknüpfung gelingt.
Die Darstellung befasst sich mit der Geschichte des Kommunismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und beruht auf sechs überarbeiteten Aufsätzen, deren Erstveröffentlichung bis ins Jahr 2000 zurückreicht, sowie zwei neu verfassten Kapiteln. Der Autor kann sich auf seine bisherigen vergleichenden Forschungen zum deutschen und französischen Kommunismus in der Zwischenkriegszeit stützen und so beispielsweise die herausfordernde Situation skizzieren, in der sich die beiden kommunistischen Parteien angesichts der Vorgaben der Komintern in der sogenannten "Dritten Periode" ab 1928 befanden: Weil der Parti communiste français (PCF) bei der in mittleren und kleineren Wirtschaftsbetrieben beschäftigten Facharbeiterschaft einen großen Rückhalt verzeichnete, war er für die von der Komintern proklamierten Organisierungsbestrebungen in Großbetrieben weniger ansprechbar als die KPD. Deren Mitglieder und Anhänger zeigten sich weitaus offener für die geforderten Maßnahmen: Aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit konnten sie sich bedenkenloser auf eine "ultralinke" Praxis einlassen. Auch die daran anschließenden vergleichenden Ausführungen zur Einheitsfront der frühen 1930er Jahre liefern wichtige Einsichten in das komplexe Verhältnis von Parteiführung, Anhängerschaft und Komintern vor dem Hintergrund der landesspezifischen politischen Kultur. Wirsching zeigt, dass es die französischen Kommunisten durch die Besinnung auf das peuple vermochten, ideologische Gräben innerhalb der Linken eher zu überwinden - anders als die KPD, die durch ihre Feindschaft gegenüber der SPD die Spaltung der Arbeiterklasse vertiefte. Dazu trug der disparate Umgang mit der jeweiligen revolutionären Tradition bei: Während es der deutschen kommunistischen Bewegung an positiven historischen Referenzpunkten fehlte und die Novemberrevolution zum Erinnerungsort wurde, der den "Verrat" der Sozialdemokratie belegte, berief sich der PCF ab Ende der 1920er Jahre auf die bürgerlich-revolutionäre Tradition und unterfütterte damit die Volksfrontbemühungen der folgenden Dekade (109f.).
Ebenso überzeugend ist Wirschings Darstellung dort, wo sie an die neueren Forschungen zum Kommunismus als transnationales Phänomen anknüpft, wie sie insbesondere Brigitte Studer vorgelegt hat [2] - etwa, wenn er die Bewegung als "'romantischen' Erfahrungs- und Begegnungsraum" (133) analysiert. Am Beispiel einiger Paare (darunter Rosa Luxemburg und Leo Jogiches sowie Evelyn Trent und Manabendra Nath Roy) beschreibt er die Verwobenheit von politischen Idealen und privaten Beziehungen: Das utopische Versprechen einer befreiten Gesellschaft habe manche Akteure - in der Regel auf der Funktionärsebene - ermuntert, auch in ihren Paarbeziehungen die dem Geschlechterverhältnis eingeschriebenen Disparitäten zu überwinden und eine privat-politische Aktionsgemeinschaft zu bilden. Doch diese Synthese konnte nur temporär verwirklicht werden; infolge der zunehmenden Herausforderungen der politischen Arbeit, besonders ab den 1930er Jahren, waren diese potenziell emanzipatorischen Beziehungsweisen zum Scheitern verurteilt.
Weniger überzeugend sind hingegen jene Aufsätze, in denen Wirsching sich mit den ideengeschichtlichen Grundlagen des Kommunismus befasst, mitunter werden auch starke Thesen zu wenig belegt. Dies geschieht etwa in einem Text über den Zusammenhang von normativ-gewaltvoller Sprache und gewalttätiger Praxis: Zwar plädiert Wirsching nachvollziehbar für eine "Geschichte der kommunistischen Bewegung als Kommunikationsprozess" (27) und arbeitet die Vorteile einer diskurs- und kulturgeschichtlich inspirierten Analyse von Sprache heraus, die das Potenzial habe, "die statische Trennung" (ebd.) zwischen Funktionärsebene und sozialer Praxis aufzubrechen. Manche Schlussfolgerungen aus dieser theoretischen Grundannahme wirken dann allerdings etwas unvermittelt. Wie sich diese Norm beispielsweise 1918/19 in Deutschland auf die "kognitive Alltagswelt der Anhänger und linkssozialistischen Sympathisanten" niederschlug, führt Wirsching nicht genau aus. Auch pointierte Aussagen zur Weimarer Republik ab 1928 - "Sprache bahnte nun erneut der Gewalt den Weg" (41) oder "Im Extremfall beendete man die Propaganda des Gegners, indem man ihn tötete" (47) - hätten einer genaueren, quellengestützten Beweisführung bedurft. Dies gilt auch für die Frage der Bolschewisierung. Das Verhältnis zwischen den kommunistischen Parteien und den Bolschewiki gehört zu den besonders intensiv diskutierten Themen der Kommunismusforschung. Wirsching befindet, KPD und PCF seien bereits in den frühen 1920er Jahren wenn schon nicht in die "organisatorische", dann doch zumindest "ideologische und moralische Abhängigkeit" von der russischen Partei geraten. Es sei "von einer frühen 'Bolschewisierung' beider Parteien" auszugehen, die bereits "zu Lebzeiten Lenins abgeschlossen" wurde (71). Durch die Deutung der Frühzeit der beiden kommunistischen Parteien als "Unterwerfungsgeschichte" (ebd.) positioniert sich Wirsching im Lager derjenigen, die den Anpassungsdruck durch die Bolschewiki und die Anpassungsbereitschaft der KPD und des PCF als ausgesprochen groß betrachten.
Etwas irritiert auch der Aufsatz zu Lenin, der dessen Zeit im Exil - speziell in München - ab 1900 behandelt. Die Zusammenhänge, die der Autor zwischen den biographischen Erfahrungen Lenins und der bolschewistischen Ideologie herstellt, wirken wenig stichhaltig. So sei der diktatorisch-totalitäre Charakter der marxistisch-leninistischen Weltanschauung auch auf die mangelnde Integration Lenins in die westlichen Stadtgesellschaften zurückzuführen. Zudem habe er durch seine Weigerung, die im übrigen Europa verbreiteten Freiheitswerte in seine theoretischen Arbeiten einfließen zu lassen, "die Kluft zu Europa [verbreitert]", so Wirsching (63). Auf spekulatives Terrain begibt sich der Autor, wenn er den Gedanken aufgreift, Lenins Hinwendung zu radikalen und gewalttätigen Politikformen sei womöglich auch dem "Trauma" entsprungen, das ihn infolge der Hinrichtung seines Bruders 1887 ereilt habe (51).
Obwohl die älteren Texte überarbeitet wurden, wirken manche Ansätze und Befunde der Aufsatzsammlung etwas aus der Zeit gefallen. Extremismustheoretische Perspektiven sowie der Fokus auf die Gewaltgeschichte des Kommunismus haben ihre Berechtigung; inzwischen ist die Forschung allerdings schon weiter und beleuchtet diese neuralgischen Punkte eher eingebettet in eine politische Kulturgeschichte, die Wechselwirkungen mit den übrigen politischen Akteuren sowie soziale Kontexte stärker berücksichtigt. Dennoch bietet der Band eine erste Orientierung im Feld der Kommunismusforschung, wobei die Kombination aus analytisch interessanten Zugriffen, dem deutsch-französischen Vergleich und durchaus kontroversen Standpunkten das Buch zu einer erkenntnisreichen Lektüre macht.
Anmerkungen:
[1] Marcel Bois / Florian Wilde: Ein kleiner Boom. Entwicklungen und Tendenzen der KPD-Forschung seit 1989/90, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2010, 309-322.
[2] Brigitte Studer: Reisende der Weltrevolution. Eine Globalgeschichte der Kommunistischen Internationale, Berlin 2020.
Rhena Stürmer