Klaus-Michael Mallmann / Volker Rieß / Wolfram Pyta (Hgg.): Deutscher Osten 1939-1945. Der Weltanschauungskrieg in Photos und Texten, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003, 205 S., 84 s/w-Abb., ISBN 978-3-534-16023-5, EUR 39,90
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Die Beschäftigung mit Fotos als historischer Quelle im Allgemeinen und zumal für den Zweiten Weltkrieg sowie die bekannten Verbrechen der Deutschen und ihrer Verbündeten hat in den letzten Jahren bedeutende methodische Fortschritte gemacht. Schon 1988 hatte Volker Rieß mit anderen den Band "Schöne Zeiten" herausgebracht, dem im nächsten Jahr ein weiterer folgte. [1] In ihnen sind Fotos und Wortquellen zur Vernichtungspolitik versammelt, die durch ihre schiere Häufung diese Dimension augenfällig ins Bewusstsein rücken wollen. Die Diskussion um die fragwürdige Verwendung von Fotos in der (ersten) Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht" hat das forciert, und die zweite Version und zumal ihr Begleitband reflektieren diese Problematik vertieft.
In der Nachfolge der Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen hat sich jetzt eine "Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart" unter Leitung von Wolfram Pyta zusammengefunden, deren erste Publikation, wohl im Kern von Klaus-Michael Mallmann zusammengetragen, vorzustellen ist. Es handelt sich um eine Quellenedition von Fotos, Texten und Feldpostbriefen einerseits sowie von Vernehmungsprotokollen der früheren Zentralstelle andererseits. Die Fotos entstammen ebenfalls zu einem großen Teil den Ermittlungsakten, zum Teil aber auch anderen Sammlungen. Mallmann geht davon aus, dass "Photos lediglich zweidimensionale Zeichengefüge" seien, die aber hier nicht primär zur Illustration, sondern aus sich selbst heraus wichtig seien. In der Situation, in der es kaum noch Zeitzeugen gebe, "kommt der Gedächtnisfunktion der Bilder eine wachsende Bedeutung zu". Es geht also um Wissenschaft wie politische Bildung gleichermaßen; die Problematik einer Sicht der "Kamera der Henker" wird ebenso angesprochen wie die Notwendigkeit präziser Dokumentation der Entstehung. Gerade darin liegt der Fortschritt, auf die Grenzen ist jedoch zurückzukommen.
Mallmann hält das Streben nach Repräsentativität seiner Quellenauswahl für keine angemessene Kategorie, da es keinen Maßstab dafür gebe. Er will aber "Hinweise auf die innere Verfaßtheit, letztlich die Motivation der Täter" zum wichtigsten Kriterium machen. Im Rückentitel, der ja wohl nicht ohne die Herausgeber zustande gekommen ist, heißt es vollmundiger: "Diese Verknüpfung von Bildnarrativ und Selbstzeugnissen legt die Innenansicht der mörderischen Gewalt bloß und lässt Mentalitäten und Motive der Täter besonders deutlich zutage treten". Konkret ist der Band in drei Teile aufgeteilt: Mentalitäten, Tatorte und Einheiten. Diese werden immer wieder von (insgesamt 85) Fotos durchbrochen, die dann doch gelegentlich eine illustrative Funktion erhalten, in vielen Fällen aber auch eine zusätzliche Dimension zu den Wortquellen bieten. Die Zugehörigkeit zu den drei Teilen ist dabei oft willkürlich, oder, durchaus positiv formuliert: die drei verfolgten Schneisen weisen große Sektoren der Überlappung auf.
Der erste Teil wird stark von Feldpostbriefen dominiert, nur gelegentlich finden sich Zeugenaussagen aus Prozessen, aber auch amtliche Schriftstücke etwa von Einsatzgruppen. Es wird gezeigt, wie vom Beginn des Krieges gegen Polen an mörderische Gewalt, auch wenn sie subjektiv als Gegengewalt beschrieben wurde, ausgeübt wurde. [2] Gelegentlich vorhandene Briefsequenzen eines Briefautors sind, zum Beispiel beim Angriff auf die Sowjetunion, besonders sprechend. Manchmal wird auch von Deutschen von eigenen "Taten" berichtet, meist wird von diesen aber die Gewalt durch andere Deutsche angesprochen. Großflächig wird der gesamte "Deutsche Osten", vor allem aber Polen, Weißrussland und die Ukraine, dokumentiert. Ich finde die plakativen Überschriften mit Quellenauszügen sehr zugespitzt auf eine Lesart der zentralen "Stelle"; die Auswahl wird insgesamt nicht recht deutlich.
Im zweiten Teil werden insgesamt zwölf "Tatorte" mit Quellenauszügen, im dritten sieben militärische oder polizeiliche "Einheiten" vorgestellt. Das ist sehr viel überzeugender, da diesen Abschnitten knappe, ein- bis dreiseitige Einleitungen vorangestellt sind. Sie geben einen zumeist präzisen und klaren Einblick in den Forschungsstand, der ja in den letzten Jahren gerade auf diesen beiden Wegen vorangetrieben worden ist - nicht zuletzt durch mehrere große Sammelbände, an denen Mallmann maßgeblich beteiligt war. In diesen beiden Abschnitten wird gelegentlich auch eine Auswahl geglückt in den Brennpunkt gerückt, wenn etwa die SS-Kavalleriebrigade in die Widerlegung der einflussreichen Legende von der SS als "Soldaten wie andere auch" eingebettet oder über die Gründe für die bisherige Vernachlässigung des Polizeibataillons 338 in der Forschung nachgedacht wird. Bei Kamenez Podolsk heißt es zum August 1941: "Erstmals regierte die Maxime Tötung in toto" (in wenig schöner Alliteration) - also die Anfänge der systematischen Ermordung von Juden.
Die systematische Dreigliederung fördert das vergleichende Lesen naturgemäß auch in ganz anderer Richtung. Ich fand mehrfach auch auf unterer Ebene erwähnt die Berufung auf Hitlers Rede vom 30. Januar 1939, mit der er allgemein die Ermordung der europäischen Juden "prophezeit" hatte. Ebenso wird an mehreren Stellen - auch von Tätern - das Hochwerfen und Erschießen von Kleinkindern in der Luft berichtet. Die Kollaboration mit und Instrumentalisierung von indigenem Antisemitismus wird häufig geschildert. Ganz Neues habe ich dabei wenig erfahren, wohl aber ist der Fund und Abdruck weithin neuer Text- und Bildquellen zu konstatieren. Sie eignen sich für die angestrebten bewusstseinsbildenden oder didaktischen Zwecke sicher gut. Ob allerdings ein Buch mit dem durchaus gemäßigten Preis von € 39,90 über Bibliotheken hinaus Verbreitung finden kann, scheint mir fraglich.
Bei allem Lob für die große Mühe der Edition mit etwa 35 Seiten Anmerkungen, seien jedoch auch einige kritische Punkte genannt.
(1) Die Feldpostbriefe als Quelle sind seit den grundlegenden Arbeiten von Klaus Latzel und auch Martin Humburg [3] reflektiert worden. Hier finden sich jedoch durchgängig Auszüge, die nur selten deren Einbettung etwa in Anrede, Schlussformel oder persönliche Mitteilungen bringen. Auch wenn Auszüge in einer solchen Edition erforderlich sind, kann man aber die "Mentalitäten" sehr viel besser durch die Dokumentation auch der jeweiligen Kommunikationssituation erfassen oder sich diesen annähern. Aber was sagt ein vereinzelter Satz (aus einer Vernehmung von 1963, zum Getto Warschau) schon aus: "Bei den großen Selektionen gehörte die Peitsche geradezu zum Anzug"?
(2) Die Fotos zeigen zu einem beträchtlichen Teil Verfolgungs- und Tötungsszenen oder Tote in Gruben sowie Brände und Ähnliches. Die Anmerkungen im Anhang geben genau die Fundorte an, gegebenenfalls auch die Originalbeschriftungen. Doch hier wäre deutlicher zu unterscheiden: Beschriftungen der Fotografen oder zeitgenössische Titel, Beschriftungen der archivierenden Stelle (oft Ludwigsburg oder andere Ermittlungsakten), die auch Zusatzinformationen enthalten konnten. Die Herausgeber haben sich jedoch leider zu eigenen Unterschriften entschlossen, die aus der Sicht der heutigen Bearbeiter das Dargestellte erläutern. Ganz selten - und dann durchaus überzeugend - haben sie die (in heutiger Sicht diskriminierenden) Quellenüberschriften in Anführungszeichen gesetzt. Das gibt einen ganz anderen Blick auf die Bilder durch die Einbeziehung von deren Intention frei, und gerade das trägt zur Mentalität einiges bei.
(3) Die gewählten neuen Bildunterschriften überzeugen häufig nicht oder zeigen zumindest den Verlust an "Bildnarrativ". Das erste Foto gegenüber der Titelei zeigt zwei Soldaten, gut gelaunt und eingehakt mit zwei weiblichen Uniformierten (welche Uniform?) vor einem offenen Güterwagen, der Beine von Uniformierten, anscheinend Soldaten, erkennen lässt: "Angehörige des Polizeibataillons 318 auf dem Transport". Die Anmerkungen weisen aus, dass es sich um das Fotoalbum des Vaters von Wilfried Vogel (eines ehemaligen Bundeswehrgenerals) handelt (der dies dankenswerterweise trotz Beteiligung seines Vaters an Untaten möglich machte): "Auf der Bahnfahrt. Unser Komp.-Chef u. Spieß". Aus Dubno in Wolhynien fand man wohl in Ermittlungsakten ein Fotoalbum, aus dem es in diesem Band vier Fotos gibt, die zumeist keine Beschriftung tragen. Woher kommt, was sagt eine Unterschrift bei einer Nahaufnahme von Personen beim Hitlergruß? Darunter befinden sich im Mittelpunkt der Aufnahme eine junge Frau und ein Kind mit Hakenkreuzfahne: "Ehrenspalier anläßlich eines Besuches von Rosenberg und Koch". Abb. 77 (wie Abb. 1 aus dem Album Vogel) zeigt acht uniformierte Personen in Reihe hintereinander gehend und von vorn abgebildet mit einem Ausbilder an der Seite: "Polizeibataillon 318 bei der Ausbildung". Wie viel aussagekräftiger ist das Original: "Parademarsch. Die ersten Gehversuche...". Derartige Beispiele ließen sich etliche anführen.
Mallmann, Rieß und Pyta haben ein gutes Quellenbuch zum Alltag des Ostkrieges und der Verfolgung vorgelegt, das vielfältige Schneisen schlägt. Der selbst gewählte Anspruch, Motive und Mentalitäten zu zeigen, wird jedoch nicht voll eingelöst.
Anmerkungen:
[1] Volker Rieß / Ernst Klee / Willi Dreßen (Hg.): "Schöne Zeiten". Judenmord aus der Sicht der Täter und Gaffer, Frankfurt a. M. 1988; Ernst Klee / Willi Dreßen unter Mitarbeit von Volker Rieß: "Gott mit uns". Der deutsche Vernichtungskrieg im Osten 1939-1945, Frankfurt a. M. 1989.
[2] Neuerdings: Alexander B. Rossino: Hitler Strikes Poland. Blitzkrieg, Ideology, and Atrocity, Kansas City 2003; in Vorbereitung: Jochen Böhler (Warschau / Köln): Der Septemberfeldzug 1939. Die deutsche Wehrmacht und die polnische Bevölkerung.
[3] Klaus Latzel: Deutsche Soldaten - nationalsozialistischer Krieg? Kriegserlebnis - Kriegserfahrung 1939-1945, Paderborn 1998; ders.: Vom Kriegserlebnis zur Kriegserfahrung. Theoretische und methodische Überlegungen zur erfahrungsgeschichtlichen Untersuchung von Feldpostbriefen, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 56 (1997), Heft 1, S.1- 30; Martin Humburg: Das Gesicht des Krieges. Feldpostbriefe von Wehrmachtsoldaten aus der Sowjetunion 1941-1944, Opladen 1998.
Jost Dülffer