Wolfram Pyta (Hg.): Das europäische Mächtekonzert. Friedens- und Sicherheitspolitik vom Wiener Kongress 1815 bis zum Krimkrieg 1853 (= Stuttgarter Historische Forschungen; Bd. 9), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2009, VI + 350 S., ISBN 978-3-412-20225-5, EUR 42,90
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Das "Europäische Mächtekonzert" zwischen 1815 und 1853 ist ein klassisches Sujet der Geschichtswissenschaft, auch wenn es in den letzten Jahren vergleichsweise wenig Interesse in der Forschung fand. Es schien, als sei zu diesem Thema alles gesagt und deswegen wandte man sich ganz anderen Themen und Fragestellungen zu. Der vorliegende, auf eine Stuttgarter Tagung zurückgehende Band von Wolfram Pyta zeigt, dass es sich lohnt, einen neuen Blick auf das Staatensystem des frühen 19. Jahrhunderts zu werfen, dass man hier mit innovativen Fragestellungen neue Zusammenhänge erschließen kann.
Die Beiträge des Bandes drehen sich im Kern um drei Probleme: Zum einen geht es um die in den frühen 1990er Jahren von Paul W. Schroeder aufgestellte These vom Wandel des Staatensystems durch den Wiener Kongress, zweitens geht es um die Integration kulturgeschichtlicher Fragestellungen in die Geschichte der internationalen Beziehungen und schließlich wird ein Überblick über neuere Forschungen zu den zentralen Akteuren des Staatensystems zwischen 1815 und 1848 gegeben.
Im Jahre 1994 veröffentlichte der US-amerikanische Historiker Paul W. Schroeder eine Studie, die seither in der Geschichtswissenschaft diskutiert wird und auch in den meisten Beiträgen dieses Bandes eine prominente Rolle einnimmt. Die wichtigsten Argumente werden im vorliegenden Band von Schroeder selbst noch einmal zusammengefasst. Er stellt die These auf, dass sich das internationale Staatensystem auf der Basis der Wiener Verträge seit 1815 fundamental von jenem des 18. Jahrhunderts unterscheidet. Die verantwortlichen Staatsmänner des Wiener Kongresses hätten unter dem Eindruck der Kriegserfahrungen ein "neues Denken" in die internationale Politik eingeführt, das sich verkürzt auf eine Abkehr vom "Bellizismus" des 18. Jahrhunderts hin zu einem Friedenssystem im frühen 19. Jahrhundert beschreiben ließe. Daher könne von einer "Transformation of European Politics" gesprochen werden. Aufbauend auf den Thesen Schroeders fragt Matthias Schulz, was denn das neue des Staatensystems sei. Er führt aus, dass das europäische Konzert seit 1815 eine internationale Institution geworden sei, die "für die Regulierung von Sicherheitsproblemen, kurz das Friedens- und Konfliktmanagement im europäischen Staatensystem verantwortlich war." (50) Entgegen der früheren Einschätzung der Geschichtswissenschaft, dass das Mächteringen des 18. Jahrhunderts im Kern fortgesetzt wurde, argumentiert er, dass die kollektive Macht des europäischen Konzertes als Institution sehr hoch gewesen sei. Die Normen des Konzertes seien verbindlich gewesen und von den Regierungen bis 1848 weitgehend eingehalten worden. Leighton S. James geht noch einen Schritt weiter und erklärt, dass es im Kontext der napoleonischen Kriege zu einer "Europäisierung" (259) gekommen sei. Durch das Kriegserlebnis sei das Europa-Bild großer Menschen-Massen verändert worden. Das habe nicht unbedingt zur Homogenisierung geführt, im Gegenteil, der Topos vom unterentwickelten Osten Europas entstand nun auf breiter Basis.
Die meisten der Beiträge bemühen sich zudem erfolgreich neue, insbesondere kulturwissenschaftliche Kategorien für die Erforschung des europäischen Staatensystems im frühen 19. Jahrhundert fruchtbar zu machen. Dies gilt in besonderer Weise für den Begriff der "Erfahrung", den Reinhard Koselleck schon 1988 für die Geschichtswissenschaft eingeführt hat. Er wurde in der Kultursoziologie theoretisch entwickelt und findet nun seinen Weg zurück in die Geschichtswissenschaft. Entscheidend ist hier, dass Menschen Erfahrungen machen, die zumindest teilweise in ihr Handeln Eingang finden, indem diesen Erfahrungen ein Sinn beigemessen wird. Auf diese Weise wird die individuelle Vergangenheit ein wesentliches Element bei der intellektuellen Konstruktion der Gegenwart und für die Gestaltung der Zukunft. Wie dieses Konzept gewinnbringend angewandt werden kann demonstrieren insbesondere die Beiträge von Philipp Menger über die "Heilige Allianz" und jener von Gerd Helm über den Begriff "Europa" als sinnstiftende Erfahrungsdeutung im frühen 19. Jahrhundert. Das Konzept der "Erfahrung" kann dabei eine individuelle Bedeutung annehmen oder auch kollektiv angewandt werden, dann spricht man von einer "Generation". Dies spielt insbesondere in den Beiträgen von Sven Externbrink über Kulturtransfer und internationale Beziehung für die "Generation Metternich" sowie bei Tim Blanning, der sich mit dem europäischen Staatensystem unter dem Erfahrungsbegriff beschäftigt, eine Rolle. Ergänzend hierzu zeigt Oliver Schulz, wie europäische Identität durch Exklusion, hier am Beispiel des Osmanischen Reiches, schon im frühen 19. Jahrhundert entstand.
Doch nicht nur in theoretisch-methodischer Hinsicht weiß der Band zu überzeugen, auch die empirischen Ergebnisse sind wichtig. Reiner Marcowitz greift die These Schroeders auf und zeigt, dass auch die französische Regierung neue Paradigma für ihre Außenpolitik entwickelte. Die lange Friedensperiode von 1815 bis 1853 sei nicht nur ein Verdienst der Sieger von 1815 gewesen, sondern auch das der französischen Regierung, die die neuen Normen des internationalen Systems auch als Verlierer des Krieges akzeptiert habe. Für die englische Außenpolitik galten ganz andere Maßstäbe: Hier zeigt Thomas Otte die konzeptionell enge Verflechtung von Außen- und Wirtschaftspolitik, ebenfalls ein innovatives Element der Außenbeziehungen im europäischen Staatensystem des 19. Jahrhunderts. Jürgen Angelow betont in seinem Beitrag über Preußen, dass auch die kleinste der europäischen Großmächte eine "einvernehmliche, passive und nur wenig konfliktbereite" (155) Politik betrieben habe. Wolf D. Gruner zeigt, dass auch für Österreich das mit dem Deutschen Bund geschaffene Gleichgewicht in Deutschland und Europa wesentlich zur Erhaltung des Großmachtstatus angesehen wurde. Innere Probleme der Donaumonarchie jedoch ließen die Kluft zwischen Anspruch und Realität in den Außenbeziehungen Österreichs jedoch in der Mitte des 19. Jahrhunderts weit auseinanderklaffen. Matthew Rendall zeigt schließlich am Beispiel der russischen Orient-Politik, dass die ethnische Vielfalt im außenpolitischen Führungszentrum des Russischen Reiches keine individuellen Identitätsfragen aufwarf.
Der Band schließt mit einem Beitrag von Peter Krüger, der aufbauend auf den Diskussionen der Tagung weitreichende neue Forschungsperspektiven entwirft. Vor allem die Frage der Kontinuität der Grundgedanken der Wiener Ordnung bis weit ins 20. Jahrhundert hinein dürfte fruchtbar sein für weitere Forschungen und Diskussionen. Zudem regt Krüger einen langfristigen Vergleich der epochalen europäischen Konflikte der europäischen Neuzeit unter den hier entworfenen sozial- und kulturwissenschaftlichen Kategorien an.
Insgesamt hat Wolfram Pyta einen höchst anregenden Band vorgelegt, der zeigt, dass die Beschäftigung mit klassischen Themen der Geschichtswissenschaft wie das Europäische Konzert der Mächte mit neuen Fragestellungen innovative und weiterführende Ergebnisse hervorbringen kann.
Guido Thiemeyer