Daniel Speich: Helvetische Meliorationen. Die Neuordnung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse an der Linth (1783-1823) (= Interferenzen. Studien zur Kulturgeschichte der Technik; 6), Zürich: Chronos Verlag 2004, 363 S., ISBN 978-3-0340-0664-4, EUR 32,00
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Hinter dem Begriff "Helvetische Meliorationen" verbergen sich Wasserbaumaßnahmen mit dem Ziel, die Kulturverhältnisse zu verbessern (lat. melior - besser), in diesem Fall der Korrektur des Gebirgsflusses Linth im Osten der Schweiz, der von der Mitte des 18. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts regelmäßig Überschwemmungen hervorrief. Die Korrektur der Linth zwischen 1807 und 1816 bedeutete nicht nur einen einschneidenden Eingriff in den Wasserhaushalt des Flusses und seines Umlandes, sondern hatte auch einen tief greifenden Wandel des gesellschaftlichen Projektumfelds zur Folge, sie "entfaltete ein ungeahntes soziales Potenzial" (12): So ist der Bau der Kanäle nicht von der Geschichte der Schweiz als Staat und der Entstehung der liberalen Demokratie zu trennen. Dies ist im Kern die These des Autors Daniel Speich, ausgedrückt im Untertitel der Studie, bei der es um die "Neuordnung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse an der Linth" gehen soll.
Daniel Speich nimmt in seiner Dissertation, die auf eine Initiative des Landesarchivs Glarus und der Eidgenössischen Linthkommission zurückgeht, eine mikrohistorische Perspektive ein und beschränkt sich auf die Geschichte des Flusses, die er mit einer Fülle von archivalischem Material unterfüttert. Als Untersuchungszeitraum dienen die Jahre 1783 bis 1823. Die Untersuchung setzt mit der Vorlage des ersten technisch umsetzbaren Meliorationsprojektes im Jahre 1783 und damit auf dem Höhepunkt einer Situation ein, in der wiederkehrende Hochwasser und der bedrohliche Anstieg des Wasserspiegels des Walensees die traditionelle ländliche Gesellschaft der Flusslandschaft in ihren Grundfesten bedrohten - eine Situation, die von zeitgenössischen Beobachtern als "Naturkatastrophe auf Raten" (9) wahrgenommen wurde.
Am Ende des Zeitraums steht die Übergabe des Bauwerks an die Kantone Schwyz, Glarus und St. Gallen im Jahre 1823. Dazwischen liegen 40 Jahre, während derer nicht nur die Linth korrigiert und der Walensee abgesenkt wurden, sondern auch ein tief greifender Wandel der Gesellschaft und ihres Naturverständnisses stattfand. Es war gelungen, die Bedrohung durch das Gewässer mit technischen Mitteln in den Griff zu bekommen und die unbesiedelte wilde Flussebene zu einer fruchtbaren Kulturlandschaft umzugestalten, ein Wandel, dem bald die Ansiedlung von Industrie folgte. Zugleich entstand aus verschiedenen Herrschaften "das homogene Territorium einer modernen liberalen Demokratie" (317). In welchem Zusammenhang stehen die Meliorationen mit der Entstehung der helvetischen Republik? Daniel Speich geht dieser Frage mit aller Akribie, aber dennoch schnörkellos nach - eine Geradlinigkeit, die allerdings auf Kosten der Einbettung seines Gegenstandes in die internationale Forschung geht, die eine Reihe von weiteren Studien zur Geschichte von Flusskorrekturen vorgelegt hat.
Mit ihrer Untätigkeit an der Linth angesichts der als zunehmend brisant empfundenen Situation hatten sich die traditionellen Herrschaften nachhaltig disqualifiziert. Ihnen trat eine neue Gruppe von hochgebildeten Beamten und Ingenieuren gegenüber, die dem spätaufklärerischen Ideal anhingen, dass die Natur ebenso wie die menschlichen Lebensverhältnisse zu verbessern sei. Dabei spielte ein neues Naturverständnis eine wichtige Rolle: "Natur war im Entstehungsprozess der bürgerlichen Welt zugleich ein äusserer Feind und ein innerer Freund" (12). Nicht nur sollte der Fluss auf seine 'gute Natur' zurückgeführt werden, auch die Natur des Menschen galt es zu verbessern. Beides wurde zu einer moralischen Pflicht, und die Melioration ging mit Maßnahmen zur Volkserziehung einher, die den zur Freiheit befähigten Bürger schaffen sollte. So steht die Linthkorrektur, eines der berühmtesten Schweizer Meliorationsprojekte, nicht nur als 'Denkmal der nationalen Einheit', sondern auch für Werte wie Fleiß, Pflichterfüllung und Gemeingeist.
Die zwischen 1807 und 1816 durchgeführten Wasserbaumaßnahmen bis dahin unbekannten Ausmaßes erhöhten für jeden sichtbar die Macht, die der Mensch nun über die Natur auszuüben gedachte: "Solche technische Befreiungsakte gehören zu den Schlüsselszenen der Moderne" (1), heißt es in der Untersuchung - sie ließen aus einer als bedrohlich wahrgenommenen Natur eine bedrohte und schützenswerte Natur werden. Dieser Wandel war von Dauer: "Mit dem Abschluss der Bauarbeiten gewann eine soziotechnische Konstellation an Bedeutung, die in allen drei Hinsichten - jener der Macht, jener des Wissens und jener des Individuums - fortdauernde verbessernde Eingriffe und Regulierungen verlangte" (319).
Die Studie ist in drei Teile gegliedert: Erstens die Phase der Frühen Neuzeit, in der die Natur in der Wahrnehmung der ländlichen Bevölkerung dem menschlichen Handeln noch "unüberwindliche Grenzen" (13) setzte. Ein zweiter Teil beschäftigt sich ausführlich mit dem gesellschaftlichen Diskurs um die Korrekturen, auch solchen, die schließlich nicht durchgeführt wurden: Die Natur, so zeigt sich, wurde in dieser Phase zu einem politischen Kampfbegriff. Im dritten Teil schließlich geht es um konkrete Maßnahmen an der Linth. Ein Register schließt den 360 Seiten langen Band sinnvoll ab. So kann das Linthwerk nicht nur den Zeitgenossen der Meliorationen als Lehrstück dienen, sondern auch als Beispiel einer objektiven Sichtweise, die weder fortschrittsgläubig den Sieg der Ingenieure über eine bedrohliche Natur glorifiziert noch dem Verlust einer besiegten Natur nachtrauert. Der Autor identifiziert die beiden Herangehensweisen als zwei Seiten einer Münze: "Beide, der feiernde Blick auf Modernisierungserfolge und deren Charakterisierung als 'Irrweg', machen die Natur in spezifischer Weise zu einem Objekt, zu einem Anderen, zu einem Aussen, zu dem die Gesellschaft dieses oder jenes Verhältnis einzunehmen habe. Beide sind insofern spezifisch modern, als es offensichtlich über alle wechselnden Frontstellungen der Moderne gehört, Natur und Kultur als unvereinbaren Gegensatz wahrzunehmen und stets um klare Grenzziehungen zwischen den beiden Kategorien bemüht zu sein" (11).
Es ist Daniel Speich gelungen, am Beispiel der Linth den komplexen Vorgang der Meliorationen anschaulich zu machen, bei denen es sich um gewaltige gesellschaftliche Anstrengungen handelt, oft verbunden mit hohen privaten Kosten. Zwingend ist der Ausblick des Autors mit Blick auf die gegenwärtig wieder laut gewordenen Diskussionen um die Renaturierung der Linth (und anderer Flüsse): "Man müsste untersuchen, inwiefern sich die gesellschaftlichen Naturverhältnisse nach einer langen Phase der Stabilität um die Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert erneut in Bewegung gesetzt haben" (319 f.).
Rita Gudermann