Michael Wildt: Geschichte des Nationalsozialismus (= Grundkurs Neue Geschichte), Stuttgart: UTB 2008, 219 S., ISBN 978-3-8252-2914-6, EUR 14,90
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Einführungen in die Geschichte des Nationalsozialismus gibt es viele. Die beiden jüngsten setzen auf die Fachkompetenz unterschiedlicher Autoren, die den immensen Stoff, welchen die NS-Forschung zusammengetragen hat, in Einzelbeiträgen bewältigen. [1] Überblicksdarstellungen aus einer Feder existieren etwa in den Reihen Enzyklopädie Deutscher Geschichte und Grundriss der Geschichte; beide Bücher sind 2001 bzw. 2003 neu aufgelegt worden, in ihrer Grundkonzeption jedoch schon deutlich älter. [2] Alle diese Bücher richten sich an Studenten und wollen einen fundierten Einstieg in die NS-Geschichte sowie deren Erforschung bieten.
Mit diesem Anspruch tritt auch der Band der noch ziemlich jungen Reihe "Grundkurs Neue Geschichte" von UTB auf. Sie ist in die "Bachelor-Bibliothek" integriert, die mit Blick auf den Bologna-Prozess konzipiert worden ist. Was das konkret bedeutet, wird mit Blick auf den knappen Umfang von 219 Seiten deutlich: Reduktion. Didaktisierende Elemente (Kästen mit Quellenauszügen, Kapitelzusammenfassungen, Begriffserläuterungen, Grafiken, Schaubilder), die die Reihe vorsieht, sucht der Leser im Band über den Nationalsozialismus vergeblich. Auch die laut UTB "obligatorischen" Sach-, Namens- und Ortsregister fehlen; weiterführende Literatur wird lediglich aufgezählt, nicht, wie auf der Verlagsseite versprochen, kommentiert. Der Band unterläuft also die Standards, die die Reihe sich setzt. Er hätte außerdem ein sorgfältigeres Lektorat verdient gehabt; an mehreren Stellen sind grammatische Satzbrüche und Tippfehler stehen geblieben.
Als zusätzlichen Service bietet die Verlagsgemeinschaft auf ihren Internetseiten Quellen an, die die Leser herunterladen können. Zu Wildts Buch sind es fünf Quellen, die leider nicht fehlerfrei digitalisiert worden sind. Vier von ihnen sind zudem auch auf mehreren anderen Internetplattformen verfügbar, die Quellen zur Geschichte des Nationalsozialismus bereitstellen.
All diese Mängel kann man dem Autor nicht vorwerfen. Wildt schildert differenziert, präzise und anschaulich, setzt kluge Schwerpunkte und - mit die größte Leistung angesichts des knappen Umfangs - vernachlässigt weder zentrale Themen noch wichtige Perspektiven der jüngeren NS-Forschung, beispielsweise die Rolle von Frauen im Nationalsozialismus. Schon allein die Konzentration und die Auswahl verdienen Respekt und Lob. Doch Wildt geht es um mehr. Er verdichtet seine Darstellung analytisch auf das Konzept hin, das die deutsche NS-Forschung mehr und mehr zum Leitstern erhebt: die "Volksgemeinschaft". Das ist weiter nicht verwunderlich, ist der Autor doch selbst einer der Wortführer derer, die im "Volksgemeinschafts"-Konzept einen Angelpunkt für das Verständnis des Nationalsozialismus erblicken. Zahlreiche Beispiele, vor allem aber zentrale Kategorien sind dem Leser von Wildts "Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung" [3] vertraut. Ins Zentrum des hier besprochenen Buches stellt der Autor Inklusion, Exklusion, Selektion und Gewalt (15). Den entscheidenden Unterschied, der den Nationalsozialismus von anderen nationalistischen und antisemitischen Strömungen abhob, erblickt er im "Antisemitismus der Tat" (20) und der Bereitschaft bzw. dem Programm, die Gesellschaft durch Gewalt zu verändern ("Politik der Gewalt", 22). Antisemitische Gewalt sei zugleich ein Mittel gewesen, um die "Volksgemeinschaft" herzustellen, als auch deren Zweck, der in einem judenfreien Europa bestanden habe (113f.) - das ist Wildts Kernthese aus "Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung".
Das Kapitel über die ersten sechs Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft ist mit "Volksgemeinschaft" überschrieben, dem Zentralthema von Wildts Interpretation. Viel Raum bleibt nicht, um dies neben den Eckdaten der inneren Entwicklung Deutschlands auszuführen. Wildt breitet das Spektrum der Betreuungsaktivitäten seitens DAF, KdF und NSV aus, um zu illustrieren, dass die Volksgemeinschaftspolitik Millionen Menschen erreicht und ihnen "reale und nicht nur propagandistische Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen" gebracht habe (94, ganz ähnlich 105). Dadurch seien die Klassenschranken zwar nicht niedergerissen worden, die Aufstiegsmöglichkeiten und die Leistungsbereitschaft aber dennoch gewachsen. Wildt verweist auch auf die Erziehungsabsichten dieser Großorganisationen wie auch von HJ und BDM (104), führt diesen Aspekt jedoch kaum aus. Er betont die "symbolische Dimension und die Kraft von Zukunftsversprechen" (106), die der Volksgemeinschaftspolitik zum Erfolg verholfen hätten. Als Pendant zu solchen Inklusionsmechanismen beschreibt Wildt antijüdische Gewalt an zahlreichen Beispielen aus fast allen Teilen des Reiches mit vielen Details und lässt so ein schreckliches Panorama von der Alltäglichkeit und Allgegenwart dieser Gewalt entstehen.
Die Frage, was aus der "Volksgemeinschaft" im Krieg wurde, lässt der Autor im Wesentlichen unbeantwortet. Das liegt vor allem daran, dass er sich dafür kaum auf entsprechend zugespitzte Forschungsergebnisse stützen kann. Der Autor beschränkt sich in gewohnt souveräner Manier darauf, die wichtigsten Stränge Kriegsverlauf und Judenvernichtung sowie die daran geknüpften Debatten um Zeitpunkt, Auslöser und Täter der Schoah herauszuarbeiten. Wie schon zuvor werden neuere Perspektiven der Forschung, beispielsweise die Frage, wie viel die Deutschen von den Massenvernichtungen wussten, kurz angerissen. In einem kurzen Epilog lässt Wildt die Volksgemeinschaft in der Bundesrepublik fortleben - beschränkt auf ihre Inklusionsmechanismen und "vergesellschaftet" (211) in die Konsumwelt der Nachkriegszeit.
Es wäre beckmesserisch, an dieser insgesamt sehr gelungenen Einführung Detailkritik zu üben, oder zu bekritteln, dass dieser oder jener Aspekt zu kurz geraten sei. Ob den Studenten mit einer weiteren Einstiegsdarstellung zum Nationalsozialismus gedient ist oder nicht, muss sich an zwei Kriterien messen lassen. Das erste ist die Angemessenheit der Form. Verlangt der Bologna-Prozess eine derartige Reduktion? Der Rezensent findet - aber darüber lässt sich streiten -, dass es gerade am Anfang eines Geschichtsstudiums Studenten nicht zuzumuten ist, sich zentrale Themen und Fragestellungen einer Epoche derart rasch und daher oberflächlich aneignen zu sollen, wie das mit einer "Bachelor"-Taschenausgabe notwendig geschieht. Mit verhältnismäßig geringem Mehraufwand an Leseleistung ist deutlich mehr Verständnis und Reflexion zu erreichen; die genannten Sammelbände von 2008 sind dafür bestens geeignet. Ohne Vorwissen oder spätere vertiefende Lektüre wird kaum jemand verstehen, was alles im Text von Michael Wildt steckt. Das zweite Kriterium ist die Tragfähigkeit des Interpretationsansatzes. Das Buch bleibt den Nachweis schuldig, dass der Nationalsozialismus als "Volksgemeinschaft" in seinen wesentlichen Zügen beschrieben und erklärt werden kann. Dafür sind weitere Forschungen nötig, die diese Perspektive vor allem für den Zweiten Weltkrieg aufgreifen. Wildt zeigt jedoch sehr deutlich, was das Volksgemeinschafts-Paradigma leistet: Es erklärt die Anziehungskraft, den der Nationalsozialismus ausübte, zeigt die innere Logik auf, die zwischen Verbrechen und Verlockung stand, und bettet ihn zudem ideengeschichtlich ein. Insofern ist Michael Wildts Buch trotz der Grenzen, an die es stößt, richtungweisend.
Anmerkungen:
[1] Dietmar Süß / Winfried Süß (Hgg.): Das "Dritte Reich". Eine Einführung, München 2008; Jane Caplan (Hg.): Nazi Germany, Oxford / New York 2008.
[2] Ulrich von Hehl: Nationalsozialistische Herrschaft, München 2001 (Erstauflage 1994); Klaus Hildebrand: Das Dritte Reich, München 2003 (Erstauflage 1979).
[3] Michael Wildt: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919-1939, Hamburg 2007.
Bernhard Gotto