Dagmar Hirschfelder: Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2008, 552 S., ISBN 978-3-7861-2567-9, EUR 98,00
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Dagmar Hirschfelder hat sich in ihrer Dissertation mit der Untersuchung von Tronien und ihrer Beziehung zur Porträtmalerei in der holländischen Kunst des 17. Jahrhunderts eine anspruchsvolle Aufgabe gestellt. Der aus dieser Zeit stammende Begriff "Tronie" ("Kopf", "Gesicht") wurde in der neueren Rembrandt-Forschung auf Werke gemünzt, die einen nach dem Modell gemalten Kopf als Hauptthema zeigen, die aber nicht als Porträt mit Memorial- und Repräsentationsfunktion gedacht sind. Die Zuordnung einzelner Werke zu einer der beiden Kategorien bildete dabei von Anfang an ein Kernproblem. So hat sich Rembrandt in zahlreichen "Selbstbildnissen" selbst als Modell für eine Tronie genommen. Die konzeptionelle Unschärfe, hervorgerufen durch das heterogene Material, führte zu verschiedenen, scheinbar widersprüchlichen Auffassungen über das Wesen von Tronien: Sie seien Studienköpfe, Übungsstücke für Lehrlinge, eigenständige Kunstwerke für den Verkauf, trügen allegorische, biblische oder religiöse Bedeutung, zeigten Personen aus Bibel oder Historie, seien Charakterköpfe oder Exempel malerisch-künstlerischer Virtuosität. Zwar wurde der Begriff "Tronie" von der Forschung breit rezipiert, eine systematische und umfassende Untersuchung anhand des Materials, eine analytische Abgrenzung der Tronien von einfigurigen Genre- und Historienbildern sowie von Porträts, ist trotz sehr wichtiger Beiträge zum Thema bisher nicht konsequent erfolgt. Dies hat sich die Autorin in ihrer Studie vorgenommen.
Hirschfelder geht bei ihrer Untersuchung sehr systematisch in aufeinander aufbauenden Schritten vor. Sie geht auf die Vorgeschichte der Tronien ein, u.a. Kopfstudien, die vornehmlich der Werkvorbereitung dienten. Den vermuteten Einfluss der Studienköpfe von Frans Floris auf die Entstehung der Tronien bei Lievens und Rembrandt relativiert sie, er lasse sich jedenfalls nicht belegen (62), im Gegensatz zu den flämischen Studienköpfen von Rubens und van Dyck. Sie weist auch auf eine bisher nicht berücksichtigte Anregung für Tronien hin, nämlich Zeichnungen und Druckgrafik aus den Niederlanden und Deutschland (z.B. von Albrecht Dürer oder Hendrick Goltzius, der Vorbilder des frühen 16. Jahrhundert aufgriff). Die Phantasiekleidung vieler Tronien erscheint vor diesem Hintergrund als ein Rückgriff auf Renaissancetracht. Hirschfelder kann zeigen, dass es Lievens war, der im Laufe der 1620er-Jahre in Leiden die ersten Tronien als eigenständige Kunstwerke gemalt hat, und dass Rembrandt diese Anregung aufgriff. Ihre genaue Analyse des Bildbefundes von Porträts und Tronien in den 1620er- und den frühen 1630er-Jahren ergibt wesentliche Kriterien, um beide Bildtypen zu dieser Zeit zu differenzieren: Porträts zeigen die Personen repräsentativ, gut beleuchtet, mit zurückhaltender Gestik und detaillierter Malweise, besonders im Gesicht, während in Tronien Lichteffekte erprobt werden, Augen somit verschattet sein können, in Haltung und Mimik oft Emotionen ausgedrückt werden und der Malduktus frei ist. Anschließend untersucht Hirschfelder umfassend die Entfaltung der Tronien in ihrer ganzen Breite bei den wichtigsten Tronienmalern nach 1630. Tronien waren in der überwiegenden Mehrheit für den Verkauf bestimmte Kunstwerke und nur in geringerem Ausmaß auch Studienarbeiten jüngerer Künstler oder Bestandteil des Werkprozesses bei Historien- und Genremalern. Diese Maler betätigten sich zwar auch als Porträtisten, aber Hirschfelder konnte feststellen, dass Tronien weder zur Ausbildung noch zum künstlerischen Repertoire von Malern gehörten, die ausschließlich auf Porträts spezialisiert waren. Tronien bildeten für den Figurenmaler ein Experimentierfeld für künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten, konzentriert auf den wichtigsten Bestandteil einer Figur, das Gesicht. Dort gewonnene Neuerungen übertrugen die Maler zuerst auf ihre eigenen Selbstbildnisse, nachdem sie ihre Physiognomie schon als Modell für Tronien verwendet hatten. Für junge Künstler bot sich mit Tronien und Selbstbildnissen in Troniemanier sodann die Möglichkeit, den Kunstliebhabern ihr Gesicht wie ihr Können vorzustellen. Schließlich ließen sich seit dem Ende der 1630er-Jahre auch Auftraggeber in Troniemanier malen, wodurch, wie Hirschfelder überzeugend darlegt, ein neuer Bildtyp, das bürgerliche Kostümporträt entstand. Die Phantasietracht setzt das bürgerliche Kostümporträt deutlich von dem höfischen Kostümporträt ab, für das antikisierende Gewänder zur Nobilitierung der Personen verwendet wurden. Dies gilt auch für den freien und von den Konventionen der Porträtmalerei abweichenden Pinselstrich, dessen Wertschätzung den Porträtierten als besonderen Kunstkenner erwies. Die Verwischung der Grenzen zwischen Tronie und Porträt war künstlerisch beabsichtigt. Hirschfelder gelingt es aufzuzeigen, dass Tronien keine fest vorgegebene inhaltliche Bedeutung besaßen. Der Betrachter konnte sie, wenn er wollte, inhaltlich aufladen oder etwa die Affektdarstellung zur Reflektion über seinen eigenen Charakter nutzen. Die wichtigste Eigenschaft einer Tronie war aber der Autorin zufolge die Demonstration künstlerischen und malerischen Könnens. Tronien zeigten in einer freieren Faktur die individuelle Manier des Künstlers.
Dagmar Hirschfelder hat das Phänomen Tronie mit hoher Auflösung untersucht. Es gelingt ihr eine präzise Abgrenzung der verschiedenen Bildtypen (Tronien, einfigurige Genre- und Historienbilder, Kostümporträts). Sie legt überzeugend in zeitlicher Entwicklung den Wandel in der Konzeption von Tronien und auch die Interaktion zwischen ihnen und anderen Bildtypen dar, vor allem mit Künstlerselbstbildnissen und Porträts. Dadurch hat sie die bislang verwirrende Vielzahl der Bedeutungen und zum Teil mehrfachen Funktionen der Tronien in eine überzeugende Relation zueinander gesetzt. Für die verschiedenen Phasen der Entwicklung hat sie Kriterien aufgezeigt, mit denen man Bilder auf ihren Status hin - Tronie oder Porträt - untersuchen kann, wobei der Werkkontext, z.B. der Vergleich mit gesicherten Tronien oder Porträts desselben Künstlers, stets von größter Bedeutung ist. Oft kann man nur Indizien für eine Klassifizierung anführen, manchmal liegt der Fall klar, wenn z.B. ein Modell auf mehreren Bildern erscheint, wodurch diese als Tronien "entlarvt" werden.
Nur das Kapitel (4.2) zur Verortung von Tronien innerhalb der Gattungen Genre oder Historie befriedigt nicht völlig. Die Autorin geht von der Klassifizierung in die fünf "akademischen" Gattungen aus, um dann festzustellen, dass diese auf die niederländische Kunst des 17. Jahrhunderts nicht anwendbar und "die zeitgenössische Unterscheidung verschiedener Bildkategorien weniger statisch zu denken" sei (228). In der Tat gab es neben Historie, Porträt, Genre, Landschaft und Stilleben weitere Gattungen, etwa das Tierbild, das Architekturstück, die Marine- sowie die Schlachtenmalerei. Es wäre fruchtbarer gewesen, Gattungsüberschreitungen als ein geläufiges Phänomen der niederländischen Kunst wahrzunehmen, sei es als Erweis künstlerischer Kreativität oder auch zur Erschließung einer Marktnische im reich differenzierten Angebot durch einen neuen Bildtyp.
Diese Detailkritik nimmt der Arbeit aber nichts von ihrem Wert. Dagmar Hirschfelder hat das Thema Tronie und Porträt konzeptionell überzeugend erschlossen, mit zahlreichen Erkenntnissen ein differenziertes Bild der Entwicklung von Tronien im Verhältnis zum Porträt gezeichnet sowie ein solides Fundament für die weitere Forschung auf diesem Gebiet gelegt.
Stefan Bartilla