Rezension über:

Bernd Stöver: Zuflucht DDR. Spione und andere Übersiedler, München: C.H.Beck 2009, 383 S., ISBN 978-3-406-59100-6, EUR 24,90
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Rezension von:
Henrik Bispinck
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Henrik Bispinck: Rezension von: Bernd Stöver: Zuflucht DDR. Spione und andere Übersiedler, München: C.H.Beck 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 4 [15.04.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/04/16997.html


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Bernd Stöver: Zuflucht DDR

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In der Ära des geteilten Deutschland wanderten nicht nur über 5 Millionen Bürger der DDR in die Bundesrepublik ab - eine beachtliche Zahl trat auch den umgekehrten Weg an: Etwa 450.000 bis 650.000 Menschen überquerten zwischen 1949 und 1990 die deutsch-deutsche Grenze in Richtung Osten. Diese Wanderungsbewegung hat nun Bernd Stöver genau beschrieben. Der Potsdamer Historiker, kürzlich mit einer Gesamtdarstellung zum Kalten Krieg hervorgetreten, stellt die West-Ost-Migration in eben diesen Zusammenhang. Zu Recht stellt er fest, dass die Wanderungsbewegung im Kontext des Kalten Krieges - für West wie Ost - "nicht nur eine Sicherheits-, sondern auch eine politische Prestigefrage" war und fragt daher anhand des Themas auch nach der "Wahrnehmung des Systemkonflikts", nach "Mentalitäten im Kalten Krieg" sowie nach der "Perzeption und dem tatsächlichen Charakter des DDR-Sozialismus." (15f.)

Eingangs erinnert Stöver daran, dass die Idee des Sozialismus in der unmittelbaren Nachkriegszeit auch in den Westzonen eine erhebliche Anziehungskraft besaß und noch in den 1950er Jahren die langfristige Überlegenheit des westlichen Systems von Demokratie und Marktwirtschaft keineswegs ausgemacht war. Die Bodenreform, das Recht auf Arbeit und angemessenen Wohnraum, der Abbau sozialer Bildungsprivilegien und nicht zuletzt der "Antifaschismus" galten als positive Aspekte des DDR-Sozialismus und waren für viele ein Motiv, aus der Bundesrepublik in die DDR überzusiedeln oder sich nach der Rückkehr aus dem Exil dort niederzulassen.

Das eigentliche Thema geht Stöver im zweiten Kapitel "Seitenwechsel nach drüben" an, wobei er zu ähnlichen Ergebnissen kommt wie Andrea Schmelz in ihrer vor einigen Jahren erschienenen Dissertation. [1] Er schildert das Auf und Ab der Übersiedlerzahlen in den 1950er Jahren und ihren Einbruch nach dem Mauerbau 1961, dem ein weiterer kontinuierlicher Rückgang bis in die 1980er Jahre folgte. In die Irre führt allerdings seine Darstellung der deutsch-deutschen Migration im Umfeld des 17. Juni 1953. Weder blieb nach dem gewaltsam unterdrückten Volksaufstand die von der SED im Anschluss an die Verkündung des "Neuen Kurses" erwartete "große Rückkehrerwelle" aus, noch wuchs die Fluchtbewegung gen Westen "massiv" an. (81) Im Gegenteil: Die Zahl der DDR-Flüchtlinge ging im zweiten Halbjahr 1953 gegenüber dem ersten Halbjahr um die Hälfte zurück, während sich die Zahl der Rückkehrer und Übersiedler aus der Bundesrepublik sogar fast vervierfachte. Hier wäre ein Blick auf die - bereits mehrfach publizierte - monatliche Wanderungsstatistik hilfreich gewesen.

Hinsichtlich der Motive kommt Stöver zu dem Ergebnis, dass für etwa zwei Drittel der Übersiedler familiäre und andere private Gründe ausschlaggebend waren, wozu er auch die Flucht vor Strafverfolgung oder Schuldeneintreibung zählt. Politische Motive waren lediglich für ein Drittel entscheidend, und dies nur dann, wenn man darunter auch berufliche und wirtschaftliche Gründe fasst. Ausführlich widmet sich Stöver der Instrumentalisierung der West-Ost-Migration in der Propaganda des Kalten Krieges. In der Bundesrepublik wurde sie - trotz interner Besorgnis - als zahlenmäßig "schlicht unbedeutend" dargestellt; die Motive seien weitgehend nicht politischer, sondern familiärer Natur, wenn es sich bei den Übersiedlern nicht ohnehin um "gescheiterte Existenzen" handelte. (94f.) Die DDR-Führung betonte demgegenüber die politischen und ökonomischen Motive. Für sie bedeuteten die Zuwanderer einen Prestigegewinn, vor allem wenn es sich um Prominente handelte. Gleiches galt mit umgekehrten Vorzeichen für die Ost-West-Wanderung, die Stöver hier wie auch an anderen Stellen in die Untersuchung einbezieht.

Die Modalitäten der Aufnahme und Verteilung der Migranten sind Thema des dritten Kapitels. Stöver skizziert das System der Aufnahmeheime in der DDR, das Parallelen zum westdeutschen Notaufnahmeverfahren aufwies. Deutlich arbeitet er die inneren Widersprüche und Zielkonflikte beim Umgang mit den Übersiedlern heraus: Aus bevölkerungspolitischer Sicht war deren Aufnahme erwünscht, sicherheitspolitische Bedenken sprachen aber dagegen. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) befürchtete die Einschleusung von Agenten und die Zuwanderung von kriminellen oder aber zumindest asozialen und arbeitsscheuen "Elementen". Dies korrespondierte mit der skeptischen bis ablehnenden Haltung der Einheimischen gegenüber den Neuankömmlingen aus dem Westen. Diese müssten entweder "schön dumm" sein, "Dreck am Stecken" haben oder Spitzel sein, so Äußerungen von DDR-Bürgern Ende der 1950er Jahre. Letztlich lag, so betont Stöver, die Priorität bei den sicherheitspolitischen Aspekten, weshalb bei der Entscheidung über Aufnahme oder Ablehnung das MfS "immer das letzte Wort" hatte. (115) Missverständlich ist in diesem Zusammenhang allerdings Stövers Aussage, der Mauerbau sei "aus der Perspektive der SED-Sicherheitspolitik" das "ultimative Mittel" gewesen, "nicht nur die Ab-, sondern vor allem auch die Zuwanderung zu regulieren." (319) Letzteres wurde zwar in der Propagandarhetorik vom "antifaschistischen Schutzwall" immer wieder behauptet, war aber bestenfalls ein willkommener Nebeneffekt.

Das letzte Kapitel, das etwa die Hälfte des Buches ausmacht, behandelt eingehend neun Übersiedlerbiografien. Hierbei handelt es sich jedoch fast ausnahmslos um mehr oder weniger prominente Sonderfälle, die zur Vertiefung der Geschichte der West-Ost-Migration nur sehr bedingt taugen. Einzig Arnold Schölzel, heute Chefredakteur der "Jungen Welt", kann als einigermaßen "normaler" Fall gelten. Schölzel desertierte 1967 als 19-Jähriger aus der Bundeswehr und ging aus vorrangig politischen Motiven in die DDR. Nach der Wiedervereinigung wurde bekannt, dass er während seines Philosophiestudiums einen Kreis oppositioneller Studenten bespitzelt hatte, der daraufhin vom MfS zerschlagen wurde. Bei den anderen Beispielen handelt es sich um Politiker wie den zwischen Ost und West hin- und hergerissenen niedersächsischen Landwirtschaftsminister Günther Gereke oder um höhere Bundeswehroffiziere, die in der Bundesrepublik mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren. Der bis heute nicht eindeutig geklärte Fall des Verfassungsschutzpräsidenten Otto John ist bekannt und stellt ebenso wenig ein typisches Beispiel für die DDR-Übersiedler dar wie die in die DDR zurückgeholten West-Agenten des MfS Hans Wax und Günter Guillaume oder die mit Hilfe der Stasi in die DDR eingeschleusten ehemaligen RAF-Terroristinnen Inge Viett und Susanne Albrecht.

Hier schleichen sich überdies, wie auch an einigen anderen Stellen, Fehler in die Darstellung ein. So gehörte Susanne Albrecht nicht der ersten, sondern, wie fast alle ihre in die DDR übergesiedelten Gesinnungsgenossen, der zweiten Generation der Rote-Armee-Fraktion an. Auch lernte sie Inge Viett nicht bereits im Jahr 1969 über die "Schwarze Hilfe" kennen, sondern geriet erst Anfang der 1970er Jahre in Hamburg in die Sympathisantenszene der RAF. Insgesamt illustrieren die von Stöver behandelten Fälle, die sich zum Teil durchaus spannend lesen, weniger das Thema West-Ost-Migration als vielmehr die deutsch-deutsche Spionagegeschichte im Kalten Krieg. Problematisch an dieser Auswahl ist zudem, dass sie das Klischee, bei den DDR-Übersiedlern habe es sich überwiegend um Agenten und Kriminelle gehandelt, scheinbar bestätigt und dadurch ein verzerrtes Bild vermittelt.

Dieses Bild steht auch im Widerspruch zu Stövers Resümee, in dem er überzeugend argumentiert, dass die Übersiedlung in die DDR aus sozialgeschichtlicher Perspektive "eine höchst normale, mit anderen Wanderungsströmungen nach 1945 vergleichbare Bewegung" (322) war. Der individuellen Entscheidung zum Gang in die DDR lagen aus Sicht der Auswanderungswilligen rationale Erwägungen zugrunde. Sie strebten nach den für sie persönlich bestmöglichen Lebensbedingungen, die sie in der DDR zu finden hofften, wobei Arbeitsplatz- und Wohnungsgarantie häufig eine Rolle spielten. Erst die Bedingungen des Kalten Krieges machten aus diesen individuellen und persönlichen Entscheidungen - aus westdeutscher Sicht - eine "politische Provokation". (319)


Anmerkung:

[1] Andrea Schmelz: Migration und Politik im geteilten Deutschland während des Kalten Krieges. Die West-Ost Migration in die DDR in den 1950er und 1960er Jahren, Opladen: 2002.

Henrik Bispinck