Johannes Hürter / Gian Enrico Rusconi (Hgg.): Die bleiernen Jahre. Staat und Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland und Italien 1969-1982 (= Zeitgeschichte im Gespräch; Bd. 9), München: Oldenbourg 2010, 128 S., ISBN 978-3-486-59643-4, EUR 16,80
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Das Institut für Zeitgeschichte hat in jüngster Zeit erfreulicherweise Italien zu einem seiner Publikationsschwerpunkte gemacht, wenn auch nicht im Sinne einer offiziellen Neuorientierung, sondern dank des Engagements einiger Mitarbeiter wie Hans Woller, Thomas Schlemmer und Johannes Hürter. Allein drei der ersten zehn Bände der neuen, mit einem günstigen Preis auf ein breiteres Publikum ausgerichteten Reihe Zeitgeschichte im Gespräch widmen sich Italien bzw. dem deutsch-italienischen Vergleich. Allerdings sind sie auch sämtlich von dem Turiner Politikwissenschaftler Gian Enrico Rusconi - dem wohl derzeit in Deutschland meist rezipierten italienischen politischen Analytiker - geschrieben oder herausgegeben worden, so dass der Italienschwerpunkt mittelfristig noch besser ausbalanciert werden könnte.
Der hier zu besprechende Band behandelt die "bleiernen Jahre" des Terrorismus, also die langen Siebziger Jahre in der Bundesrepublik und Italien. Er bietet eine wohlfeile, inhaltlich gut konzipierte und nicht zuletzt auch vorzüglich übersetzte [1] Auswahl von Beiträgen deutscher und italienischer Experten. Sie gehen zurück auf eine Tagung im Mai 2008 im Italienisch-Deutschen Historischen Zentrum der Fondazione Bruno Kessler in Trient, dessen Direktor Rusconi seinerzeit war. Die elf Beiträge stammen von neun Männern und nur einer Frau [2] - Tobias Hof hat zwei Aufsätze (zur italienischen Antiterrorismuspolitik und zum Turiner Prozess gegen die Roten Brigaden) beigesteuert, die seinen guten Ruf als Experte für den Terrorismus in Italien bestätigen.
Die einzelnen Texte erreichen bei weitem nicht die Länge wissenschaftlicher Aufsätze, sondern umfassen nur 10-12 Seiten des kleinformatigen Büchleins - ohne jedes Register. Dieses innovative Konzept mit kurzen Essays, die sich in einer halben Stunde lesen lassen, funktioniert, da die Autoren überwiegend zugespitzt, thesenorientiert und pointiert schreiben. So ist ein Buch auf wissenschaftlichem Niveau entstanden, das sich auf einer Bahnfahrt konsumieren lässt und dennoch zum Nachdenken und letztlich zu weiteren Forschungsfragen anregen kann, obwohl viele Aspekte der einzelnen Themen zu kurz kommen.
Der Band ist systematisch, nach den wichtigsten beteiligten Institutionen gegliedert. Die ersten vier Abschnitte beschäftigen sich mit Regierung und Parlament (I), Polizei (II), Justiz (III) und der Öffentlichen Meinung (IV) und enthalten je einen Aufsatz über Italien und die Bundesrepublik. Diese symmetrische Anlage erspart es den Autoren, vergleichend über ihr jeweiliges Spezialgebiet hinauszublicken und überlässt es den Lesern, vergleichende Schlüsse zu ziehen, was sie in den meisten Fällen wegen der gelungenen Zuspitzung nicht überfordern wird. Lediglich der letzte Abschnitt (VI) "Forschung" enthält nur einen und erstaunlicherweise zugleich den kürzesten Beitrag, einen Literaturbericht von Klaus Weinhauer zum deutschen und italienischen Linksterrorismus. Weinhauer knüpft hier einerseits an seinen vorzüglichen Forschungsbericht zum deutschen Terrorismus von 2004 [3] an, ergänzt ihn um knappe Hinweise auf den italienischen Forschungsstand und plädiert dann für stärker kommunikationsorientierte Forschung. Da dieser Aufsatz als einziger beide Länder behandeln muss, macht er die Nachteile der Konzeption des Bandes sichtbar. In den knapp bemessenen Beiträgen kann Vieles nur angerissen werden, was bei einem Literaturbericht besonders willkürlich wirkt, da es sich um eine Textform handelt, von der man Ausgewogenheit und Vollständigkeit erwartet.
Aus dem Rahmen der institutionengeschichtlichen Gliederung fällt auch der fünfte Abschnitt "Staatskrise?" heraus. Obwohl sich die Herausforderung durch den Terrorismus als "Staatskrise" begreifen lässt, steht sie in beiden, sehr anregenden Beiträgen von Stephan Scheiper "Deutsche Staatsidee und Terrorismusbekämpfung [...]" und Angelo Ventrone "Der 'permanente Bürgerkrieg' und der Staatsbegriff der politischen Linken [...]" nicht im Mittelpunkt. Scheiper nimmt die Bekämpfung des westdeutschen Terrorismus als Fallbeispiel für eine grundsätzlich veränderte Idee und Praxis staatlichen "Handelns", die er mit den Begriffen Reflexivierung, Entterritorialisierung, Transnationalisierung, Beschleunigung, Differenzierung und Spezialisierung zu fassen versucht. Während Scheiper vom Staat und von der Terrorismusbekämpfung her fragt und argumentiert, interessieren sein Gegenüber Ventrone die unterschiedlichen Staatsbegriffe der extremen Linken einschließlich der terroristischen Gruppen einerseits und der "institutionalisierten", also parlamentarischen und ins politische System integrierten Linken - vor allem der Kommunistischen Partei - andererseits. Er illustriert die an den Faschismus erinnernde Umkehr der Zweck-Mittel-Relation in der extremen Linken, für die "Kämpfen" zu einem Selbstzweck wurde und nicht ein Mittel auf dem Weg zum Ziel Sozialismus/Kommunismus blieb, wie auch die Verwandlung der extremen Linken durch die von ihr ausgelöste Gewalteskalation. Hingegen hielt die "institutionalisierte" Linke an ihrer Identifikation mit der Republik Italien fest, obwohl sie weitere Wahlerfolge gefährdete, weil sie ohne Wenn und Aber die Terrorismusbekämpfung mittrug.
Positiv hervorzuheben sind auch die beiden einleitenden Essays von Hürter und Hof zur Antiterrorismus-Politik. Sie bieten gut strukturierte Überblicke und Analysen der politischen Kultur der Siebziger Jahre. Ohne dies explizit zu formulieren, verdeutlichen sie die modernisierende und systemstabilisierende Wirkung der Terrorismusbekämpfung in beiden Ländern. Während Hürter darauf hinweist, dass "Innere Sicherheit" eines der zentralen Reformprojekte der sozialliberalen Koalition war, zeigt Hof, dass in Italien der Antiterrorismus (anders als Antikommunismus und Antifaschismus) über ideologische Trennwände hinweg einen Konsens zwischen der Regierung und der Bevölkerung schuf, der die Erste Republik noch einmal stabilisierte.
Matthias Dahlke beschränkt sich in seinem Beitrag über die Polizei auf einen knappen Zeitabschnitt ("von Olympia '72 zur Lorenz-Entführung 1975") und schildert - ebenso wie Vladimiro Satta - die Lernprozesse angesichts der terroristischen Herausforderung. In beiden Aufsätzen wird deutlich, dass eine aus Umstrukturierungen und Reformen resultierende Schwäche der Polizei die Erfolge der Terroristen begünstigt hat. Interessante Parallelen lassen sich auch ausmachen zwischen den Vorstellungen Horst Herolds und Alberto Dalla Chiesas.
So geht die Konzeption des Büchleins auf, sowohl einem breiteren Publikum als Einstieg zu dienen wie auch mitdenkende Leserinnen und Leser mit Vorkenntnissen anzuregen - sowohl zu weitergehenden Forschungen als auch zum Widerspruch gegen manche nicht hinreichend belegte These.
Anmerkungen:
[1] Die Übersetzerinnen und Übersetzer hätten die Nennung ihrer Namen verdient.
[2] Gisela Diewald-Kerkmann, die einmal mehr aus dem Material ihrer Habilitationsschrift "Frauen, Terrorismus und Justiz" (Düsseldorf 2009) schöpft. Weitere Expertinnen wie Donatella Della Porta, Marica Tolomelli oder Petra Terhoeven sind nicht vertreten.
[3] Klaus Weinhauer: Terrorismus in der Bundesrepublik der Siebzigerjahre. Aspekte einer Sozial- und Kulturgeschichte der Inneren Sicherheit, in: Archiv für Sozialgeschichte 34 (2004), 219-24.
Christian Jansen