Detlev Brunner: Stralsund. Eine Stadt im Systemwandel vom Ende des Kaiserreichs bis in die 1960er Jahre (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 80), München: Oldenbourg 2010, VI + 201 S., ISBN 978-3-486-59805-6, EUR 29,80
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Das Buch ist in zwei Teile gegliedert: Der Verfasser untersucht einmal, welche Auswirkungen die Zäsuren 1918, 1933 und 1945 auf die kommunale Selbstverwaltung Stralsunds hatten, und dann, wie weit die veränderten Politik- und Gesellschaftsverhältnisse in der Selbstdarstellung der Stadt ihren Niederschlag gefunden haben. Für die Analyse der städtischen Selbstbilder werden vor allem markante Stadtjubiläen herangezogen wie der Wallensteintag, der sich 1938 zum 300sten Mal jährte, sowie die 700- und 725-jährigen Stadtjubiläen 1924 und 1959. Denn gerade bei solchen Jubiläen positioniert sich die Stadt in große geschichtliche Zusammenhänge, so dass hier sehr gut das Eigenbild eruiert werden kann.
Für beide Teile gilt gleichermaßen: Sie basieren auf umfangreichen Archivrecherchen, und hier vor allem im Stadtarchiv Stralsund. Aber auch eine Fülle anderer Archivmaterialien unterschiedlicher Provenienz wurde ausgewertet und akribisch dargestellt. Wegen der intensiven Quellenrecherchen bringt die Arbeit dann sowohl für die ausgewählten Umbrüche als auch für die ausgewählten Jubiläen sehr viel Neues. Genau darin liegt das Hauptverdienst der Arbeit. Wer immer sich mit den Themen der Stralsunder Stadtgeschichte, die Brunner behandelt hat, wissenschaftlich beschäftigt, wird um sein Buch nicht herumkommen.
Der Anspruch der Arbeit erschöpft sich jedoch nicht nur in einer bloßen Darstellung der jeweiligen Politik- und Festereignisse. Sie ist in mehrfacher Hinsicht auf Vergleich angelegt, einmal auf einen Vergleich der politischen Zäsuren und dann auf einen Vergleich der Festereignisse in Relation zu den durch die Umbrüche veränderten Zeiten. Und hier läuft alles auf die Frage zu: Inwieweit gibt es trotz der Umbrüche Kontinuitäten in der Konstruktion des Selbstbildes der Stadt, deren Grund nicht zuletzt in der Geschichte der so bedeutenden Hansestadt liegt - eine Geschichte, die wie nur in wenigen Städten Deutschlands als Stadtbild Stein geworden ist.
Die Anliegen des Buches kommen in den vom Verfasser (auf der Umschlagseite) formulierten "zentralen Fragen" zum Ausdruck: "Verändert sich der Charakter einer Stadt im Wandel des Systeme? Wer konstruiert welche 'Bilder'. Mit welchem Ziel? Was bedeutet städtische Geschichte für die Identität der Stadt und ihrer Bewohner?"
Gar nicht so überraschend: Über alle Umbrüche hinweg behaupten sich in Weimarer Republik, 'Drittem Reich' und DDR traditionelle Elemente der Selbstdarstellung der Stadt im Sinne eines Stolzes auf die so mächtige Bürger- und Hansestadt mit weit reichender Ausstrahlungskraft in den gesamten Osteseeraum, die systemunabhängig auf den Festereignissen betont wurden, um die Bedeutung der Stadt herauszustellen und übernationale Beachtung zu gewinnen. Gleichwohl sind spezifische zeitbedingte Unterschiede festzustellen. Ein alle Schichten übergreifender Festkonsens lässt sich beim Wallensteinjubiläum in der Weimarer Republik nicht herstellen. Arbeiterschaft und Katholiken können sich in der von den traditionellen Kaiserreichseliten dominierten Festinszenierung nicht wieder finden. Bemerkenswert dominieren bürgerliche Honoratioren auch 1934 das Festgeschehen. Der Verfasser schreibt dies mit einigem Recht dem Umstand zu, dass die 'Machtergreifung' nur ein Jahr zurücklag und gerade die pommersche NSDAP nach dem 'Röhmputsch' so mit sich selber beschäftigt war, da viele NSDAP-Mitglieder Pommerns mit dem entmachteten bzw. liquidierten linken Flügel der NSDAP sympathisierten, dass sie sich nicht sonderlich um die Ausrichtung des 700jährigen Stadtjubiläums kümmern konnte.
Am erheblichsten weichen die Feierlichkeiten 1959 von den traditionellen Selbstinszenierungsmustern ab. Die Strahlkraft Stralsunds in den Ostseeraum wird zwar weiter bemüht, aber die zum bisherigen städtischen Selbstverständnis gehörende Auffassung Stralsunds als Bollwerk des Protestantismus wird nicht mehr thematisiert. Jedoch rekurrieren die Feierlichkeiten immer noch auf viele andere traditionelle bürgerliche Elemente. Das brachte den Verantwortlichen die Kritik ein, der Sieg des Sozialismus sei in den Feierlichkeiten nicht genügend zum Ausdruck gekommen. Aber gerade deshalb werden die Feierlichkeiten 1959 zu einem schönen Beleg für die Grundthese des Buches: Dass trotz gravierender politischer Umbrüche wesentliche Elemente in der Konstruktion des Bildes der Stadt unabhängig von wechselnden politischen Trägerschichten ein erstaunliches Beharrungsvermögen besitzen.
Dafür spricht auch, dass die DDR-Stadtplanung am mittelalterlichen Stadtbild Stralsunds festgehalten und das Stadtensemble 1962 als Flächendenkmal ausgewiesen hat. Das war nicht unumstritten, verkörperte gerade doch das überkommene Stadtbild typische bürgerliche Wohn- und Lebensweisen, die in einem Spannungsverhältnis zu den Wohnformen in der sozialistischen Stadt der Zukunft standen, bei der die soziale Gleichheit der Bürger sich ganz bewusst in der Gleichheit der Wohnverhältnisse manifestieren sollte (die freilich oft nur die Gleichheit des Plattenbaus war).
Sind auf der Ebene der Konstruktionselemente des Bildes der Stadt bisweilen erstaunliche Kontinuitäten bis in die DDR-Zeit feststellbar, verhält es sich anders auf der politischen Ebene. In der Weimarer Republik kommt es - nicht weiter erstaunlich - zu keinem nennenswerten Elitenumbruch auf der Ebene der politischen Repräsentation. Aber sie wird erstmals um sozialdemokratische Elemente erweitert. Radikaler gestaltet sich die Wende zum 'Dritten Reich'. Einzelne Amtsträger werden durch NSDAP-Parteigenossen sehr schnell aus dem Amt gedrängt. Aber Oberbürgermeister Heydemann verkörpert bis 1936 immer noch bürgerliche Kontinuität. Am radikalsten ist jedoch der Umbruch 1945. Die politischen und gesellschaftlichen Strukturen verändern sich grundlegend.
Der Band weist eine vorbildliche Einleitung auf, in der die Arbeit in den Kontext (auch international) vergleichender Stadtgeschichtsforschung gestellt wird und die ein hohes methodisches Reflexionsniveau erkennen lässt. Allerdings wird auf die Überlegungen der Einleitung dann im Verlauf der Arbeit leider nur wenig Bezug genommen. Insbesondere ist das kurze Schlusskapitel "Stadt und Identität in Demokratie und Diktatur" ein wenig enttäuschend. Der Leser erwartet hier, dass der Verfasser die Gedankengänge in die übergreifenden Kontexte, wie er sie in der Einleitung entwickelt hat, stellen würde. Stattdessen ist das Schlusskapitel wenig reflektierend und eher nur eine Zusammenfassung der Ergebnisse und - bemerkenswert - ohne Ausblick auf den Umbruch 1989, der bei einem Buch, das sich explizit der Umbrüche annimmt, doch so nahe liegend ist.
Das Buch ist im Wesentlichen eine Sammlung verdienstvoller, überaus gründlich aus Quellen geschöpfter Einzeldarstellungen ausgewählter zentraler Bereiche der städtischen Politik- und Verwaltungsgeschichte sowie der städtischen Festgeschichte, die mit den Methoden der historischen Sozialforschung analysiert werden. Das Ergebnis: Trotz der Systemumbrüche ein zeitenübergreifendes erstaunliches Beharrungsvermögen traditioneller Elemente bei der Konstruktion des Selbstbildes der Stadt. Ein schöner Beleg für die longue durée von Bewusstseins-Verhältnissen, die durch (Ostsee-) Raum und (bürgerstolzer Hansestadts-) Geschichte geprägt sind, unabhängig von sich wandelnden politisch-gesellschaftlichen Systemen.
Manfred Hanisch