Stephan Flemmig: Hagiographie und Kulturtransfer. Birgitta von Schweden und Hedwig von Polen (= Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters; Bd. 14), Berlin: Akademie Verlag 2011, 444 S., ISBN 978-3-05-005155-0, EUR 99,80
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Anhand zweier Heiliger, Birgitta von Schweden (†1373) und Hedwig von Anjou, Königin von Polen (†1399), unternimmt es Stephan Flemmig in seiner Dissertation, die Besonderheiten und das Verbindende ihrer Verehrung zu untersuchen, insbesondere im Hinblick auf regionale Eigenheiten und einen "Kulturtransfer". Er betrachtet damit zwei Frauen, die im 14. Jahrhundert lebten, höchsten Kreisen an der geografischen Peripherie Europas entstammten und den Ruf der Heiligkeit erlangten. Dies sahen die Zeitgenossen freilich differenziert: Wurde Birgitta schon 1391 kanonisiert, so fand bei Hedwig eine offizielle Anerkennung erst 1997 statt.
Als Quellen zieht Flemmig neben den Kanonisationsakten und den Viten Birgittas (bei Hedwig fehlt all dies) auch Predigten, liturgische und theologische Texte heran. Sehr eingehend referiert er die Kirchengeschichte Schwedens, die dortigen Heiligenkulte und schließlich das Leben, die Werke und Religiosität Birgittas sowie die Stationen der Entwicklung und Anerkennung ihres Kultes. Analog dazu werden Polen und Königin Hedwig vorgestellt, ihre Stiftertätigkeit, insbesondere im Blick auf die Universität Krakau, und ihre Religiosität, unter anderem im Verhältnis zu Orthodoxie und Slawentum, sowie ihr durchaus standesgemäßes Leben. Erst in diesen Abschnitt sind Passagen eingeschaltet, die Birgittas Verehrung in Preußen, Böhmen und separiert davon in Polen behandeln, denn Königin Hedwig war offensichtlich an der schwedischen Heiligen und ihren Offenbarungen interessiert. Diese Texte wurden nach der Schlacht von Tannenberg (1410) in Polen politisch gegen den Deutschen Orden gedeutet.
Die ersten Hinweise auf Hedwigs Heiligkeit und Wundertätigkeit traten in dieser Zeit auf, und auch sie wurden alsbald gegen den Deutschen Orden instrumentalisiert, um dessen Gegner Jagiełło, Hedwigs Gemahl, als christlichen Herrscher herauszustellen. Trotz lokaler Vorstadien (1419/26) musste der Geschichtsschreiber Jan Długosz, eine Hauptquelle für die Kapitel zu Hedwig, 1450 in Rom feststellen, dass die Kurie keinen Kanonisationsprozess einzuleiten gedachte. Hedwig erschien in der folgenden Zeit lediglich an der Krakauer Kathedrale sporadisch als Heilige, zudem wurde ihr Andenken als Mitstifterin durch die Universität Krakau gepflegt.
Die Frage des Kulturtransfers bezieht sich in diesem Zusammenhang neben dem allgemeinen Einfluss der Heiligenverehrung speziell auf die Verbindungen, die von Birgitta zu Hedwig führen: Unsicher scheint, ob der Leitbegriff zu tragen vermag: Adaptiert wurde ein "Kult" unter der Voraussetzung kultureller Gemeinsamkeiten, die aber über bipolare Phänomene hinausgingen: Über die italienischen Verbindungen der Anjou, die während des Großen abendländischen Schismas mit Papst Bonifaz IX. einen engen Verbündeten Hedwigs berührten, ergab sich ein weiterer Konnex zu Birgitta, die lange in Rom gelebt hatte. Für Hedwig war der dynastische Hintergrund eo ipso eher europäisch als nur polnisch, doch bei Flemmig bleibt die Komponente der angiovinischen Selbstheiligung und Heiligenverehrung blass.[1] Auch die in Zusammenhang mit der Bildung von Unionsreichen (Polen-Ungarn, Polen-Litauen, Skandinavien) in jener Zeit entstandenen Kultmöglichkeiten werden nicht verfolgt. Flemmig sieht insgesamt Polen weitaus enger mit dem Rest Europas verbunden als Schweden, und schließt zugleich auf einen autochthonen Anspruch auf "Selbsteuropäisierung" beider Länder durch die Heiligenverehrung, eine These, die freilich noch zu verifizieren wäre.
Ergänzt wird die Arbeit durch kleinformatige Abbildungen (fast alle einer schwedischen Internetseite entstammend) und Tabellen. Letztere führen die Kanonisationen bis 1391 und die Heiligenpatrozinien im mittelalterlichen Schlesien, Polen und Schweden auf. Ein näherer Blick hierauf erweist grundsätzliche Probleme. Die darin aufgeführte Hedwig ist diejenige von Schlesien (†1243), schon deshalb von Hedwig von Polen (†1399) schwer unterscheidbar, da Flemmig in den Tabellen Beinamen nur selten angibt. Er führt neben "Alle Heiligen" auch "Allerheiligen" (402) auf, neben Vincent kommt Wincent vor, auch Thomas Becket tritt meist unter diesem Namen auf, in Ratibor indes als Zisterzienser "Thomas Kantauryjskiego" (399). Kaum glaubhaft ist, dass, wie die Tabellen suggerieren, die polnischen Dominikaner nirgends ein Patrozinium ihres Ordensgründers annahmen. Offenbar ist eine kritische Sichtung der Vorlagen oder ein Abgleich mit Kalendarien unterblieben. Die Listen zur Kultgeografie bleiben ferner unverständlich, weil sie nicht in Kartenbilder umgesetzt wurden. Im Index sind sie gleichfalls unberücksichtigt geblieben.
Vollends schlägt sich die nur ansatzweise Durchdringung der Literatur in der von Flemmig kompilierten Liste der kanonisierten Heiligen nieder (377 f.). Zweifelhafte Fälle wie Godeleva von Ghistelles, Helena von Skövde, Iñigo von Oña (um ein Jahrhundert zu früh) erscheinen, ebenso auch Nichtkanonisierte wie Robert von Molesmes oder Margarethe von Schottland (bei Flemmig "Marguerite d'Écosse"). Hingegen fehlen die bereits um 1004 heiliggesprochenen, in Polen ermordeten fünf Brüder ebenso wie Konrad von Konstanz, Gerhard von Brogne, Rosendo von Dumio oder der diskussionswürdige Ladislaus von Ungarn. Die fehlenden Todesjahre für Karl den Großen oder Anno II. von Köln hätten selbst in einer Arbeit zum Spätmittelalter ergänzt werden können.
Kritisch müssen weitere methodische Details gesehen werden. Zunächst ist der Umgang mit den Quellen meist auf eine geraffte Extraktion von Einzelheiten beschränkt. Sammelt Flemmig die Epitheta Hedwigs in Krakauer Universitätspredigten, so werden diese aufgezählt, nicht aber näher nach ihrer Herkunft etwa aus Kanzleisprache, Patristik oder der Vulgata analysiert. So waren "piae recordationis" (286) oder "clarae memoriae" (271) als Bezeichnung Verstorbener völlig üblich - einer anderen Sphäre gehörte "stella matutina" (Sirach 50, 6) an, das fraglos Heilige bezeichnete, während Hedwigs Einordnung als "confratra" (286) extraordinär scheint. Durch eine Kontextualisierung der einzelnen Belege und ihre Gewichtung wären hier vertiefte Erkenntnisse zu gewinnen gewesen. Zu fragen wäre etwa, ob Hedwig spezialisierten Universitätspatronen angenähert wurde.
Weitere Schwächen sind anzumerken: Papsturkunden nennt Flemmig meist Bullen und ihnen ordnet er auch das mehrbändige Grundlagenwerk Papst Benedikts XIV. "De servorum Dei beatificatione et beatorum canonizatione" zu (154), was nur ohne Autopsie geschehen konnte. Ein akribisches Lektorat hätte der Arbeit gut getan (schon wegen des divergierenden Buchtitels auf der Außenseite und dem Vorblatt, oder bei unverständlichen Stellen, wie 191, Anmerkung 36, oder 264, Anmerkung 412). Wären so aber die gravierenden Fehler in den Zitaten ausgeräumt worden? Man beachte etwa "vere vidua" (135), "ad honore" (213, Anmerkung 353), "documentatione del Ponificatio" (282, Anmerkung 510), "fundatricis humus Universitatis" (283, Anmerkung 514), "mater nostrae" (284), "ministra iusitiae" (285), "speziale" (286) und so weiter. Fragwürdige Sprachzuordnungen finden sich auch sonst: Muss man eine Handschrift aus Stockholm als "Vadstena monastery Copy-book" (318) charakterisieren? Dies ist nicht singulär: Von zwei Kardinälen erscheint (125) der Spanier als "Jean de Turrecremata", der Provenzale hingegen als "Ludovicus Arelatensis".
Ungeachtet dessen erschließt diese Arbeit in ihren Kapiteln über Königin Hedwig und die polnischen Aspekte der Birgittenverehrung ein aufschlussreiches Bündel von Aspekten der ostmitteleuropäischen Geschichte an der Wende zum 15. Jahrhundert in deutscher Sprache.
Anmerkung:
[1] Unerwähnt bleibt die hierfür wichtige Arbeit von Gábor Klaniczay: Holy Rulers and Blessed Princesses. Dynastic cults in medieval central Europe, Cambridge u.a. 2002.
Otfried Krafft