Elena Temper: Belarus verbildlichen. Staatssymbolik und Nationsbildung seit 1990 (= Visuelle Geschichtskultur; Bd. 7), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2012, 332 S., ISBN 978-3-412-20699-4, EUR 49,90
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Nachdem 1989 ehemals brave Staatsbürger in Ostmittel- und Osteuropa auf die Straßen geströmt waren, zeigte sich, dass die nachfolgenden, komplexen Transformationsprozesse von einem ebenso stürmischen Wandel der staatlichen Geschichtspolitik begleitet waren. Anschließend verlieh diese vielfach einer historischen Erinnerung Ausdruck, die ein autoritärer Staatssozialismus zuvor aus allen öffentlichen (Diskussions-)Foren verdrängt hatte. Im Zuge dieses historischen "Revitalisierungsprozesses" entwickelten diejenigen gesellschaftlichen Gruppen, die sich der Neuschöpfung ihrer Nation verschrieben hatten, folgerichtig neue "nationale" Symbole, um den Staat beziehungsweise dessen (nationale) Einheit visuell zu repräsentieren. Diese Selbstdarstellung konnte sich in der Regel eines reichen Schatzes an historischen Mythen bedienen.
Das "nationale Erwachen" in Belarus setzte jedoch 1990, das heißt nach der Aufwertung des Belarussischen zur Staatssprache - im Januar - und der Erklärung der nationalen Souveränität vom 27. Juni, nicht an einem Nullpunkt an. Bereits Ende der 1980er-Jahre etablierten beispielsweise öffentliche Reminiszenzen an das Großfürstentum Litauen und an dessen Wappenfigur "Pahonja" - eine traditionelle Darstellung eines gepanzerten und bewaffneten Reiters - sowie an die Belarussische Volksrepublik von 1918 und deren weiß-rot-weiße Farben scharfe Kontrastpunkte gegenüber der einseitigen Geschichtsdarstellung in der damaligen Sowjetrepublik. Wie Elena Temper eingangs ausführt, ging es den Protagonisten im Folgenden explizit um eine Abkehr von sowjetischen, aber auch von russischen Traditionen. Immerhin übernahm das unabhängige Belarus 1991 die heraldischen Vorbilder aus Mittelalter bzw. früher Neuzeit ("Pahonja" und die weiß-rot-weiße Flagge). Doch schon 1994 sorgte der neugewählte Präsident Aljaksandr Lukašėnka wiederum für eine komplette Abkehr, denn erneut, so Temper, habe die sowjetische Geschichtsauffassung das zentrale Topos staatlicher Erinnerungs- und Geschichtspolitik dargestellt. Infolgedessen wurden auch das sowjetische Wappen und die rot-grüne Flagge - mit geringfügigen Änderungen - restituiert, während die 1991-1994 gültigen Insignien fortan als Zeichen der Opposition gegolten hätten. Eine der Hauptursachen für diese relativ geräuschlose Restauration habe darin gelegen, dass es 1991 unter der belarussischen Bevölkerung kaum das Bewusstsein einer nationalen, sprachlichen oder kulturellen Identität gegeben habe. Im Ergebnis herrsche bis dato eine antagonistische Geschichtsbetrachtung, deren unterschiedliche Perspektiven häufig auf das politische Bekenntnis schließen lasse. Gleichwohl sei der Prozess der Identitätssuche nach wie vor noch nicht an sein Ende gelangt beziehungsweise noch völlig offen.
Die historische Argumentation stützt sich zunächst auf eine recht spät einsetzende Nationsbildung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hinzu kamen die stalinistischen Säuberungen unter belarussischen Eliten in den 1920er- und 1930er-Jahren sowie die nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1941-1944. Die Popularität der Sowjetherrschaft - faktisch bis zum Ende des Imperiums 1991 und darüber hinaus - lässt somit nicht ganz zu Unrecht den Schluss zu, dass Belarus im Zuge der Auflösungstendenzen der UdSSR seine Souveränität eher zufällig und zögerlich zu entwickeln begann.
Unter diesen Vorzeichen vergleicht die Autorin, welcher Symbole, Narrative und Medien sich einerseits die politischen und andererseits verschiedene gesellschaftliche Akteure der Republik Belarus ab 1990 bedienten, um sich, den Staat und ihre diffusen Vorstellungen von der belarussischen Nation historisch zu legitimieren. Trotz der Armut an genuiner Forschung zur belarussischen Nationsbildung gelingt es ihr, manche Klischees zu ermitteln und deutlich zu machen, warum Belarus bis heute ein so eigenwilliges Beispiel abgibt.
Das Buch nähert sich seinem Betrachtungsgegenstand unter kulturhistorischen Vorzeichen, sodass unter anderem Begriffe wie "kollektives Gedächtnis" und "Erinnerungsorte" nutzbar gemacht werden. Unterschiedliche Texte und Bildmedien, vorzugsweise für den Massengebrauch, wurden dafür mittels der historischen Diskursanalyse sowie der visual culture studies ausgewertet. So gehören zum Beispiel Geld, Briefmarken und Denkmäler zu den untersuchten Symbolträgern. Darüber hinaus wird das Augenmerk auf den öffentlichen Diskurs gelegt, wie er sich vornehmlich in Medien und Wissenschaft widerspiegelt. Den engeren Fokus richtet Temper darauf, in welcher Weise dort die belarussische (kollektive) "Identität" oder die "Nation" verhandelt wird.
Da das Lukašėnka-Regime die belarussische Erinnerungskultur insbesondere mit dem Großen Vaterländischen Krieg nachdrücklich thematisch zu dominieren versucht, wendet sich die Autorin im Anschluss exemplarisch diesem Themenkomplex und seiner Bedeutung für das postsowjetische Belarus zu. Davon abgesehen ist es auffällig, dass die langjährige sowjetische Vergangenheit - trotz eines eher positiven Gesamturteils - öffentlich kaum memoriert wird. Dies gilt umso mehr für Kuropaty, einen Schauplatz massenhafter Erschießungen unter Stalin, der Temper als ein Beispiel für die blinden Flecken, von denen das staatliche Gedenken durchsetzt sei, dient.
Eine der zentralen Thesen besteht darin, dass die belarussische Erinnerungskultur und deren visuell wahrnehmbaren Repräsentationen davon zeugen, dass sich alle bisherigen Nationsbildungsmodelle für das belarussische Fallbeispiel als obsolet erwiesen haben. Ein wichtiges Indiz dafür sei, dass unter Lukašėnka im Wesentlichen der Staat, und nicht etwa die Nation, den Bezugspunkt der (staatlichen) Propaganda bilde. Die konfrontative Gemengelage, innerhalb derer sich dieser Prozess vollziehe, stelle jedoch die Gesellschaft auch zukünftig vor große Herausforderungen. In Anbetracht dieser Prognosen plädiert Temper schließlich dafür, unzeitgemäße Nationsvorstellungen zu überwinden und sich stattdessen auf den Aufbau einer politischen Nation zu konzentrieren: "Gerade im belarussischen Fall ist von Identität stets im Plural zu sprechen. Deswegen müssen sich nationale und postsowjetisch-belarussische Identitäten nicht unbedingt ausschließen, sondern sind offen für Koexistenz. Die Anerkennung der die belarussische Gesellschaft kennzeichnenden Mischidentitäten ist heute geradezu ein emanzipatorischer Akt der Befreiung aus dem starren Denken in den Kategorien einer 'homogenen' Nation" (270). Diese Kritik richtet sich somit auch implizit gegen so manche Hybris auf Seiten der "nationalen" Opposition.
In formaler Hinsicht ist abschließend zu kritisieren, dass die belarussischen Titel im Literaturverzeichnis nicht ins Deutsche übertragen worden sind. Dem Werk insgesamt ist es dagegen nicht nur gelungen, die virulenten Reibungspunkte zwischen staatlicher Erinnerungspolitik in der heutigen Republik Belarus und davon abweichenden Wahrnehmungsmustern konzise zusammenzufassen und zu deuten; die Verfasserin liefert darüber hinaus auch bemerkenswerte Denkanstöße, deren Dimensionen die Zukunft Europas als Ganzes betreffen.
Rayk Einax