Rayk Einax: Entstalinisierung auf Weißrussisch. Krisenbewältigung, sozioökonomische Dynamik und öffentliche Mobilisierung in der Belorussischen Sowjetrepublik 1953-1965 (= Historische Belarus-Studien; Bd. 2), Wiesbaden: Harrassowitz 2014, 443 S., ISBN 978-3-447-10275-9, EUR 64,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Unter welchen Vorzeichen fand die Entstalinisierung in den Sowjetrepubliken statt? Dieser Frage geht der Gießener Osteuropahistoriker Rayk Einax am Beispiel der Belorussischen Sowjetrepublik (BSSR) in seiner nun veröffentlichten Dissertation nach. Sie leistet einen wichtigen Beitrag für einen Forschungszweig, der noch in den Anfängen steckt: Bislang hat sich die Geschichtsforschung des Themas "Entstalinisierung" vor allem grundsätzlich angenommen. Im Fokus der Wissenschaft standen Moskau und der von dort ausgehende Prozess politischer Veränderungen sowie dessen Auswirkung auf den gesamten Ostblock. Kaum Beachtung wurde bislang den spezifischen - und nicht allein politischen - Entwicklungen geschenkt, die in den verschiedenen Sowjetrepubliken während des Jahrzehnts nach dem Tode Josef Stalins zu beobachten waren.
Einax legt überzeugend dar, dass gerade dieser Detailblick neue Erkenntnisse für das Verständnis des Phänomens Entstalinisierung hervorbringt. Seine Hauptthese lautet, dass die jeweiligen historischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen in den Republiken der Entstalinisierung ihre regional ganz eigene Prägung gaben. Entstalinisierung versteht er damit als einen nicht einheitlichen Prozess. So arbeitet Einax heraus, dass die Genossen in der BSSR - anders als etwa in der Ukrainischen SSR oder den baltischen Republiken - nach Stalins Tod nicht auf die nationale Karte setzten. Bemerkenswert eifrig sei vielmehr das Bestreben der Kommunistischen Partei von Belarus (KPB) gewesen, die Vorgaben aus Moskau zu erfüllen. Ihr Kalkül ging auf: Im Gegenzug wurde kräftig investiert, und die BSSR konnte so zu einer sozialistischen Vorzeigerepublik aufsteigen. Hieraus ergibt sich Einax' zweite These: Nur durch diesen unbedingten Sowjetpatriotismus gelang es der im Zweiten Weltkrieg verheerten, bis in die 1950er-Jahre hinein selbst im Unionsvergleich wirtschaftlich äußert rückständigen Republik an der Westgrenze der UdSSR, zu einer sowjetischen Erfolgsgeschichte zu werden (144ff.).
Mit seiner Arbeit will Einax den Begriff "Entstalinisierung" auf eine breitere Basis stellen. Demnach gehören nicht allein die politische Liberalisierung und das kulturpolitische Tauwetter dazu. Zu Recht greift ihm dieses Verständnis von Entstalinisierung als ein politisches Phänomen zu kurz. Vielmehr ist seine Arbeit als Themenquerschnitt angelegt, der in insgesamt neun Kapiteln auch wesentliche soziale und kulturelle Entwicklungen der Zeit einbezieht. Damit geraten Phänomene der Ära Chruščëv in den Blick, die bislang kaum im Zusammenhang mit Entstalinisierung untersucht worden sind: die Urbanisierung und Industrialisierung der 1950er- und 1960er-Jahre, das Aufkommen eines bescheidenen Wohlstands breiter Bevölkerungsschichten, die schwierige Integration der freigelassenen Gulag-Häftlinge, die Reaktion der Partei auf Unzufriedenheit im Volk sowie die vom Politbüro in Moskau forcierten Kampagnen gegen Kirche und Religion und ihre Konsequenzen.
Anhand von sechs Fallbeispielen untersucht Einax, wie sich die Veränderungsprozesse, die in Moskau eingeleitet wurden, in der BSSR ausgewirkt haben. Dabei zeichnet er das Bild eines langanhaltenden und starken Gefälles zwischen den Lebensverhältnissen in Ost und West sowie zwischen Stadt und Land. Die Modernisierung und die damit verbundenen Aufstiegsmöglichkeiten, die sich in den rasant wachsenden Städten boten, waren jedoch, so seine dritte These, die Grundlage für die Stabilität und Linientreue der belorussisch-sowjetischen Gesellschaft. Die Aussicht auf einen bescheidenen Wohlstand sorgte dafür, dass die Brüche, die mancherorts im Zuge der Entstalinisierung auftraten, rasch überdeckt werden konnten. Stabilität und Aufstieg waren die obersten Ziele von Parteiführung und Gesellschaft (163).
Seinem in der Einleitung erklärten Ziel, keine Nationalgeschichte der BSSR zu schreiben (14), wird Einax durchweg gerecht. Er unterliegt nicht der Versuchung, aus den politischen und gesellschaftlichen Besonderheiten der BSSR eine genuine Geschichte abzuleiten. Vielmehr bleibt jederzeit klar, dass das Interesse der politischen Führung der KPB darin bestand, innerhalb des Unionsrahmens das Beste für die eigene Republik herauszuholen. Dementsprechend lautet seine vierte These, dass es diese unbedingte, nie in Frage gestellte Verortung innerhalb der UdSSR gewesen sei, die das Spezifikum der Entwicklung der BSSR während und nach der Entstalinisierung ausgemacht habe (158).
Die Ergebnisse der meisten Fallbeispiele beruhen auf eigenen Archivrecherchen und stellen damit neu erschlossenes Material dar. Dabei geht Einax' Arbeit weit über eine Zusammenfassung hinaus. Vielmehr vermitteln die Zitate aus Versammlungsprotokollen, Schmierereien auf Wahlzetteln und Einblicke in die Verdienstmöglichkeiten von Kirchengemeinden einen sehr plastischen und immer wieder amüsant zu lesenden Eindruck des Alltagslebens in der BSSR. Illustriert wird dies durch Grafiken und Fotos, von denen man sich durchaus mehr gewünscht hätte, da sie die atmosphärisch dicht geschriebenen Schilderungen sinnvoll ergänzen. Ebenfalls positiv zu erwähnen ist die sehr umfangreiche Literaturliste, die nachfolgenden Forschern eine gute Grundlage bietet. Einzig: Mitunter geraten Einax die Fallbeispiele zu lang. Im Kapitel über die Religionspolitik Chruščëvs hätte es nicht geschadet, sich kürzer zu fassen.
Auf der letzten Seite schlägt Einax dann den Bogen bis in die Gegenwart. Ist es also die Epoche der Entstalinisierung, die den Schlüssel zum Verständnis der gegenwärtigen - und für westeuropäische Beobachter immer wieder bizarr-sowjetnostalgisch anmutenden - Einstellung vieler Menschen in der Republik Belarus bietet? Liegt der Grund für die Fixierung vieler Belarussen auf soziale Sicherheit, und sei diese auch noch so dürftig, in der tradierten Erfahrung des Aufstiegs der Chruščëv-Jahre? Einax stellt diesen Zusammenhang nicht als zwingend, aber als wahrscheinlich dar. Auf Protestveranstaltungen "brachte die Mehrzahl der Belarussen [...] zum Ausdruck, dass sie sich nach einem Status quo zurücksehnten, der - vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen - einst, d.h. beginnend mit Chruščëvs Entstalinisierung, vermeintlich politisch stabile Verhältnisse, rasches wirtschaftliches Wachstum, föderales Prestige und einen erklecklichen individuellen Lebensstandard bedeutet hatte" (398). Es bleibt zu hoffen, dass sich Forscher benachbarter Disziplinen wie Soziologie oder Politikwissenschaft anschicken, diese These bald zu überprüfen.
Annegret Jacobs