Winfried Baumgart (Hg.): Ein preußischer Gesandter in München. Georg Freiherr von Werthern. Tagebuch und politische Korrespondenz mit Bismarck 1867-1888 (= Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts; Bd. 74), Berlin: Duncker & Humblot 2018, 531 S., ISBN 978-3-428-15444-9, EUR 119,90
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Mit stupender Schaffenskraft bereichert der Mainzer Emeritus Winfried Baumgart die Geschichtswissenschaft gewissermaßen im Jahresturnus mit Editionen bisher unveröffentlichter Quellen von Fürsten [1], Offizieren [2] oder Diplomaten [3] des Deutschen Kaiserreichs. Als neuestes Werk präsentiert er die Tagebücher des preußischen Gesandten in München, Georg Freiherr von Werthern, und dessen politische Korrespondenz mit dem Bundes- bzw. Reichskanzler Otto von Bismarck von 1867 bis 1888.
Geboren am 20. November 1816 im thüringischen Beichlingen, hatte Werthern 1848 die diplomatische Laufbahn eingeschlagen. Nach mannigfachen, mitunter als "qualvoll" empfundenen Verwendungen im Ausland wurde ihm 1867 die "unaussprechliche Wohlthat" der Ernennung zum Gesandten beim bayerischen König Ludwig II. zuteil (205). Die nun folgenden 21 Jahre an der Isar hielt Werthern in einem "Hausbuch" betitelten Journal fest, in dem er sein "durch Geschäfte, Kunst, geselligen Verkehr, Jagd & Kurzweil aller Art überreich ausgefüllt[es]" Tagewerk für seinen ältesten Sohn Revue passieren ließ (262).
Mit ungestümer Ungeduld hatte der Diplomat nach seinem Amtsantritt die baldige Verschmelzung des neu gegründeten Norddeutschen Bundes mit den süddeutschen Staaten ersehnt. Doch weder die preußische noch die bayerische Regierung mochten die "herrliche[n] Gelegenheit[en]" beim Schopfe zu fassen (79). Erst der im Frühjahr 1870 eskalierende Konflikt mit Frankreich über die spanische Thronfrage sollte das Tor zur Reichseinigung öffnen. Werthern hatte die Thronkandidatur des Hohenzollern-Prinzen Leopold bereits Ende 1866 ins Gespräch gebracht. Er war es auch, von dem vier Jahre später die Initiative zur Kaiserproklamation durch Ludwig II. ausging: Mitte November 1870 regte der Gesandte beim Bundeskanzler an, die Geldverlegenheiten des Königs auszunutzen, um ihn durch "eine Art Henkersmahlzeit" für die Reichseinigung zu gewinnen (100) - mit Erfolg. Vom Sommer 1871 bis Oktober 1885 erhielt der Wittelsbacher für seinen "Kaiserbrief" an Wilhelm I. von Preußen eine "Réjouissance" (117) in Höhe von 100.000 Thaler pro Jahr; Ludwigs Oberststallmeister Holnstein bekam für Vermittlungsdienste neben dem Erlass seiner Schulden eine jährliche "Gratification" über 10.000 Gulden (180).
Anders als von Werthern erhofft, war Bayerns "feige[r], falsch[er], verlogen[er] & größenwahnsinnig[er]" (119) Monarch indes nicht bereit, sich nach der Reichsgründung in den Dienst der Integration von Süd- und Norddeutschland zu stellen. Anfang 1872 erhärtete sich beim Gesandten der Verdacht, der König leide an einer "Geistesstörung" (141). Im Herbst 1873 erfuhr Werthern, dass Ludwig II. zur Unterdrückung seiner Homosexualität Kampferpulver nahm, das nach Ansicht des verantwortlichen Apothekers "unfehlbar bald völlige Verrücktheit" zur Folge haben werde (177). Holnstein prognostizierte kurz darauf für den Fall einer Einstellung der Berliner Geldzahlungen eine "Katastrophe", weil dem Monarchen dann die Flucht in seine Scheinwelt versperrt würde (368).
Bismarck wollte die Schreckensnachrichten jedoch nicht wahrhaben; in den Augen des Erzroyalisten besaß der Wittelsbacher das "selbstverständliche" Recht, "ein Sonderling zu sein" (363). Als das bayerische Staatsministerium ihn 1886 aufgrund horrender Schulden der Kabinettskasse und der sexuellen Ausschweifungen des Königs um Hilfe bat, lehnte der Reichskanzler ab. Das Staatsministerium gab daraufhin ein medizinisches Gutachten in Auftrag, das die Regierungsunfähigkeit Ludwigs II. diagnostizierte. Nach der am 9. Juni vollzogenen Ausrufung der Regentschaft des Prinzen Luitpold wurde der entmündigte König nach Berg verbracht, wo er vier Tage später ein tragisches Ende fand.
Seit den schrecklichen Ereignissen am Starnberger See braute sich über Werthern ein dienstliches Unwetter zusammen. Obwohl sich sein Interesse an der Arbeit in München seit 1872 auf die "süße Gewohnheit des Daseins" beschränkte (205), hatte er alle Versetzungsangebote aus persönlichen Gründen abgelehnt. Ihm war klar, bei weiteren Revirements nicht mehr berücksichtigt zu werden. Nicht absehbar waren hingegen die unerfreulichen Umstände, die 1886 zu seinem Karriereende führen sollten.
Ein erstes Anzeichen für den Stimmungsumschwung in Berlin bot der von Bismarck am 11. Juni geäußerte Vorwurf, Werthern habe "ungenügend[e]" Berichte über die "Münchener Catastrophe" verfasst (475). Aus der Sicht des Gesandten suchte der Reichskanzler bloß einen Vorwand, um den Münchener Posten für seinen Schwiegersohn, Kuno Graf zu Rantzau, freizubekommen, der sich im Auswärtigen Amt "so verhaßt gemacht [hatte], daß er nicht bleiben könne" (246). Da Luitpold auf Werthern nicht verzichten wollte, waren die Berliner "Flegeleien" zunächst durchkreuzt (245). Zwei Jahre später konnte den Gesandten jedoch auch die Protektion des Prinzregenten nicht mehr retten. Nach mehreren, den Tatbestand von Dienstvergehen streifenden Torheiten reichte er nolens volens seinen Rücktritt ein und fühlte sich dabei "wie ein verbrauchtes Werkzeug durch einen Fußtritt herausgeworfen [...] um eines elenden Nepotismus willen" (257f.).
Dem Editor ist Dank dafür zu sagen, dass er für die Wissenschaft einen Schatz gehoben hat, den der Autor der Öffentlichkeit eigentlich vorenthalten wollte, um das "Staatsgeheimniß" der Bestechung Ludwigs II. zu wahren (264). Als Bereicherung der im Original höchst unterschiedlich dichten, in der Edition auf Tagebuchextrakte mit "historisch-politischem Interesse" (9) beschränkten Journaleinträge wie auch zu deren besserer Einordnung hat Baumgart zwei Nachträge zum "Hausbuch" sowie eine durch ein Dokumentenverzeichnis erschlossene Auswahl aus der zum Teil ebenfalls noch nicht publizierten Korrespondenz mit Bismarck abgedruckt. Überdies enthält diese mal in Regestform, mal im Auszug, mal im Volltext präsentierte Sammlung diverse Dokumente an oder von dritten Personen, insbesondere Vertreter des Auswärtigen Amts in Berlin und der Münchener Regierung, aber auch Wertherns Bruder Thilo. [4]
Wie bei Baumgarts früheren Editionen lässt auch dieses hochprofessionell bearbeitete Quellenwerk kaum Wünsche offen. Zwei seien dennoch genannt: Hilfreich für den Benutzer wäre ein zusätzliches Verzeichnis der zahlreichen in die Tagebuchaufzeichnungen inserierten Dokumente, zu denen etwa Briefe Ludwigs II. und Wilhelms I. oder auch eine wichtige Aufzeichnung des Stallmeisters Hornig über den Geisteszustand Ludwigs II. gehören. Außerdem hätte sich wohl nicht nur der mit der bayerischen Geschichte des späten 19. Jahrhunderts nicht so vertraute Leser mitunter die eine oder andere zusätzliche Sachanmerkung gewünscht. Desungeachtet besticht der Band durch tiefe Einblicke in die preußisch-deutsche Diplomatie und liefert wichtige neue Erkenntnisse zum Verständnis der deutschen Außenpolitik.
Anmerkungen:
[1] Winfried Baumgart (Hg.): Kaiser Friedrich III. Tagebücher 1866-1888, Paderborn u. a. 2012; ders. (Hg.): König Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I. Briefwechsel 1840-1858, Paderborn u. a. 2013.
[2] Winfried Baumgart (Hg.): General Albrecht von Stosch. Politische Korrespondenz 1871-1896, München 2014.
[3] Winfried Baumgart (Hg.): Herbert Graf von Bismarck, Erinnerungen und Aufzeichnungen 1871-1895, Paderborn u. a. 2015; James Stone / ders. (Hgg.): Heinrich VII. Prinz Reuß. Botschafter unter Bismarck und Caprivi. Briefwechsel 1871-1894, Paderborn u. a. 2015.
[4] Die Aufnahme eines Briefes von Ludwig II. an Bismarck vom 10. August 1881 begründet Baumgart mit dem missverständlichen Argument, er sei in der "Neuen Friedrichsruher Ausgabe" der Gesammelten Werke Bismarcks "nicht gedruckt" (423); missverständlich deshalb, weil die "NFA" bekanntermaßen nur Schriftstücke von Bismarck, aber keine Gegenkorrespondenzen veröffentlicht.
Ulrich Lappenküper