Norbert Bicher: Mut und Melancholie. Heinrich Böll, Willy Brandt und die SPD. Eine Beziehung in Briefen, Texten, Dokumenten, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2017, 247 S., 5 s/w-Abb., ISBN 978-3-8012-0512-6, EUR 22,00
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Für die einen waren sie Hoffnungsträger, für die anderen ein "norwegischer Emigrantenkanzler" [1] und ein Terrorismus-Sympathisant: Willy Brandt und Heinrich Böll. Die beiden Nobelpreisträger mit ihren unterschiedlichen Biografen wurden zu Projektionsflächen für politische Hoffnungen auf ein anderes Deutschland, eine Abkehr von der spießigen Nachkriegsgesellschaft mit all ihren Kontinuitäten zum Nationalsozialismus. Damit waren sie auch ein beliebtes Ziel für heftige Angriffe konservativer Kräfte. Dass die Ablehnung nicht spurlos an ihnen vorüberging, zeigen die persönlichen Zeilen, mit denen sie sich Mut zusprachen. Norbert Bicher hat sie nun in einer Sammlung herausgegeben.
"Sie wussten beide voneinander, dass ihnen das Leben ob solcher Angriffe oft sauer geworden war" (17), befindet Herausgeber Norbert Bicher, Journalist und ehemaliger Pressesprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Brandt forderte Böll auf, nicht zu resignieren, Böll hielt Brandt für zu anständig für die Politik. In des Kanzlers Lebenslauf liege, so Böll, "Stoff für eine Legende, fast für ein Märchen, das wahr wurde" (108). Brandt würdigte Bölls "Wille zur Aufrichtigkeit" als "etwas Heroisch-Einfaches" (233). Der treffende Titel "Mut und Melancholie" betont eine Gemeinsamkeit: Die Melancholie ob der Verhältnisse und der stetige Mut, doch auf Besserung hinzuarbeiten.
Die von gegenseitiger Achtung, Wertschätzung und gar "Bewunderung" (12) geprägte Beziehung der beiden Protagonisten umreißt Bicher in einer lesenswerten Einleitung. Sie führt in den historischen Kontext der polarisierten Gesellschaft der 1960er und 1970er Jahre ein. Es folgen 70 Dokumente unterschiedlicher Länge zwischen 1961 und 1985 (sowie ein späteres Dokument aus 2009) in chronologischer Reihenfolge, die z.T. erstmals veröffentlicht werden. Die Texte bestehen aus Briefwechseln zwischen Böll und Brandt, aber auch zwischen Böll und Helmut Schmidt, Herbert Wehner oder Hans-Dietrich Genscher. Hinzu kommen zahlreiche Essays des Schriftstellers, z.B. über den Kanzler (Dok. 17), ebenso Telegramme und Wahlkampfreden. Auch Günter Grass kommt mit einer Würdigung Bölls zu Wort (Dok. 70). Diese abwechslungsreiche Zusammenstellung, die sich nicht auf die Korrespondenz zwischen Böll und Brandt beschränkt, hat jedoch den Schönheitsfehler, dass die Kriterien für die Auswahl an keiner Stelle deutlich werden. Genau das wäre wünschenswert, weil die Auswahl maßgeblich das Bild der persönlichen Beziehung prägt. Die Aufnahme von Briefwechseln etwa mit Helmut Schmidt ist sicherlich ein Glücksgriff. Gerade vor dieser Folie tritt die besondere Nähe zwischen Böll und Brandt hervor, die zwischen dem Schriftsteller und Brandts Nachfolger nie entstand, obwohl auch Schmidt den Kontakt suchte. Die Aufnahme anderer Dokumente (z.B. Dok. 62) erschließt sich dagegen weniger.
Großen Raum nehmen die Auseinandersetzungen Bölls mit der konservativen Presse und vor allem dem Springer-Konzern ein, die ihn spätestens nach seiner Forderung nach "freiem Geleit" für Ulrike Meinhof (Dok. 10) als geistigen Unterstützer der RAF abstempeln wollten. Böll beklagte den "Faschismus der netten Leute" (144) als Folge der Kampagne gegen seine Person. Die Dokumente zeigen sein kompromissloses, oft scharf formuliertes Eintreten für moralische Überzeugungen. Brandt und die SPD stärkten Böll den Rücken (z.B. Dok. 125). Die Auswahl zeichnet ein etwas zu positives Bild von Bölls Verhältnis zur sozialdemokratischen Partei. Keineswegs war Böll ein Parteigänger der SPD, wie ihm von Seiten der Unionsparteien oft vorgehalten wurde. Ersten Bemühungen zur Mobilisierung von Kulturschaffenden zugunsten der SPD erteilte Böll in den 1960er Jahren eine Abfuhr. So beteiligte er sich nicht an einem von Hans Werner Richter herausgegebenen Essayband über potenzielle sozialdemokratische Regierungsmitglieder. Die Entwicklung der SPD zur Volkspartei wertete Böll als Anbiederung nach rechts. Deshalb gehörte er mit zu ihren schärfsten Kritikern. In einem Brief an Ingeborg Bachmann bezeichnete er die SPD daher als "bürgerlich nationalistische Idiotenpartei" und rückte die Unterstützung der SPD in die Nähe der Begeisterung "junger Deutscher, die sich 1933 engagierten" [2]. Gegenüber Hans Werner Richter machte Böll klar: "Mein Gott, ist es so schwer, einzusehen, dass einer, der sozusagen von Kopf bis Fuss gegen die CDU ist, nicht für die SPD sein muss?" [3]. Diese teils scharfen Formulierungen fanden, ebenso wie frühere Verbindungen Bölls zur SPD im Zuge der Wiederbewaffnungsdebatte in den 1950er Jahren, leider keinen Eingang in die Zusammenstellung.
Eine Auswahl ist eine Auswahl, Auslassungen sind nicht zu vermeiden. Dennoch müssen sie benannt werden. Weitgehend ausgespart bleibt auch die spätere Hinwendung Bölls zu den Grünen, zu deren Wahl er 1983 aufrief. Für ein umfassendes Bild der Beziehung zwischen Böll, Brandt und der SPD wären diesbezügliche Dokumente aufschlussreich gewesen, zumal auch Brandt Sympathien für die Friedensbewegung hegte.
Noch im Wahlkampf 1969 blieb Böll auf Distanz zur SPD. In seinem "Offenen Brief an eine deutsche Frau" (Dok. 6) riet Böll scharf von der Wahl der Union ab, ohne für die SPD zu werben: "Alles außer CDU und NPD steht Ihnen zur Verfügung" (74). Die offenere Unterstützung, die sogar zu einer Rede Bölls auf dem SPD-Parteitag in Dortmund führte, stand in enger Beziehung zur Person Brandt. Kurz zuvor hatte Böll einem Schriftstellerkollegen noch mitgeteilt: "Nein, lieber Günter Grass, ich wäre bereit, für Willy Brandt alles zu tun, aber ich kann nichts für eine Regierung tun, die die ganze demagogische Scheisse [sic] bis in die letzte Provinzecke durchsickern lässt" (118 f.). Aber Böll stellte sich schließlich hinter den Slogan "Willy Brandt muss Kanzler bleiben". Er sah in ihm einen Politiker mit historischem Auftrag, führe Brandt doch als erster deutscher Kanzler "aus der Herrenvolktradition" (111) heraus.
Willy Brandt wusste, dass er Böll nicht bedingungslos für die sozialdemokratische Sache gewinnen konnte. Schriftsteller seien kein "Akklamationscorps" (234). Er schätzte Bölls kritisches Potential. "Ich hoffe, ich weiß, Heinrich Böll gehört keiner politischen Fraktion, sondern Deutschland, der deutschen Kultur und der Weltliteratur" (234), schrieb Brandt mit seinem Nachruf auch den Grünen ins Stammbuch.
Wissenschaftlichen Standards genügt Bichers Edition nur bedingt. Zugutehalten muss man dem Herausgeber, dass er einen Anspruch auf "Wissenschaftlichkeit und Vollständigkeit" (55) auch nicht erhebt. In der Einleitung verzichtet er vollständig auf Belege. Leider wird auch nicht auf die folgenden Dokumente verwiesen. Die sonstigen Anmerkungen beschränken sich überwiegend auf kurze biografische Informationen. Ohne Kenntnis des zeitgeschichtlichen Kontexts erschließen sich beim Lesen so einige Stellen nicht direkt (z.B. 186). Auch werden Auslassungen in den Dokumenten selbst nicht deutlich gemacht. Das Literaturverzeichnis enthält lediglich 13 Titel, sodass es weder die aktuelle Forschung zu den Personen Brandt und Böll, noch zur SPD bzw. zum Verhältnis der Sozialdemokratie zur intellektuellen Elite des Landes angemessen berücksichtigt.
Doch auch wenn geschichtswissenschaftliche Standards nicht eingehalten werden, liefert Bicher mit "Mut und Melancholie" einen lesenswerten Einblick in das persönliche Verhältnis zweier bedeutender Persönlichkeiten. Aus den Dokumenten lässt er das gesellschaftliche Klima und die Härte der politischen Auseinandersetzung in einer Zeit wieder lebendig werden, in der "Willy wählen" und "Böll lesen" für viele zusammengehörte. Vielleicht liegt genau darin der besondere Wert des Buches. Bichers Auswahl schätzt das Persönliche, die emotionale Komponente in einer Welt, die wir heute vielfach kühl aus Diskursen und Strukturen zu erklären versuchen.
Anmerkungen:
[1] Bekannte Diffamierung Willy Brandts durch die Kunstfigur Alfred Tetzlaff aus der WDR-Produktion "Ein Herz und eine Seele", zit. nach: Kanzler-Witze. Messer im Rücken, in: SPIEGEL 7/1974, 37 f.
[2] Brief an Ingeborg Bachmann vom 15.8.1965, zit. nach: Jochen Schubert: Heinrich Böll. Biographie, Darmstadt 2017, 177.
[3] Brief an Hans Werner Richter vom 10.12.1964, zit. nach: Schubert: Heinrich Böll, Darmstadt: 2017, 177.
Mario Dahm