Kerstin Bischl: Frontbeziehungen. Geschlechterverhältnisse und Gewaltdynamiken in der Roten Armee 1941-1945 (= Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts), Hamburg: Hamburger Edition 2019, 348 S., ISBN 978-3-86854-332-2, EUR 28,00
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In der publizierten Fassung ihrer Berliner Dissertation rückt Kerstin Bischl einen über Jahrzehnte tabuisierten Aspekt des gemeinsamen Einsatzes von männlichen und weiblichen Soldaten der Roten Armee im "Großen Vaterländischen Krieg" in den Mittelpunkt: sexuelle Gewalt von Männern gegen Frauen. Dabei erhebt die Untersuchung den Anspruch, mit dieser Vorgeschichte auch die Endphasengewalt gegen deutsche und polnische Frauen sowie befreite displaced women erklären zu können. Bischl möchte zeigen, "welche Geschlechterverhältnisse und Gewaltdynamiken sich in dem durch Mangel und stalinistische Willkür geprägten Frontraum der Roten Armee herausbildeten, die als Erklärung für die sexuelle Gewalt der Rotarmisten gegen Kriegsende herangezogen werden können" (9). Leider erfahren die Leser nicht, was die Autorin genau unter "Frontraum" versteht. Sind ausschließlich die kämpfenden Einheiten gemeint oder auch medizinische Dienste und andere Einsatzbereiche? Es wird jedenfalls nicht erläutert, um welche Armeeangehörigen es überhaupt geht.
Die Studie gliedert sich in drei große Kapitel. Das erste unter dem Titel "Der Frontraum: Gewalt und Alltag in der Roten Armee" beschreibt die zermürbenden Bedingungen des Kriegseinsatzes sowie die harsche Alltagsrealität, denen die Rotarmisten durch Hunger, unzureichende Ausstattung und vor allem die Schikanen ihrer militärischen Vorgesetzten und politischen Überwacher ausgesetzt waren. Während in diesem Kapitel die männlichen Soldaten im Mittelpunkt stehen - vieles, was die Verfasserin hier beschreibt, ist bereits aus Catherine Merridale's "Iwans Krieg" bekannt [1] -, fokussiert sich der zweite Teil auf die Geschlechterverhältnisse in der Roten Armee. Dieses Kapitel stellt die Erfahrungen und Verhaltensweisen weiblicher Armeeangehöriger den Gesprächen der männlichen Soldaten gegenüber, die sich, folgt man Bischl, fast ausschließlich um Frauen und Sexualität drehten. Das dritte und letzte Kapitel behandelt "Sexuelles Gewalthandeln", also die sexuelle Gewalt von Angehörigen der Roten Armee bei Kriegsende. Bischls Befund, dass die Rote Armee auf dem Vormarsch nach Westen sexuelle Gewalt in hohem Maß nicht nur gegen deutsche, sondern gegenüber Frauen jeglicher Nationalität ausübte, sogar gegen Frauen, die selbst Opfer der NS-Politik waren, lässt das bisher häufig als Auslöser für die Gewalttaten genannte Motiv der Rache als Erklärung verblassen. Plausibler scheint es zu sein, die Vergewaltigungen als Folge einer über einen langen Zeitraum selbst erlittenen Unterdrückung zu sehen. Überdies ergab sich ein günstiger Zeitpunkt, um diese Ohnmacht für kurze Zeit in Macht umzukehren, bevor man selbst in die stalinistische Sowjetunion mit ihren Unterdrückungsstrukturen zurückkehren musste. Ob es aber in erster Linie die zuvor praktizierten Geschlechterverhältnisse in der Roten Armee waren, die zu diesem Ausbruch sexueller Gewalt gegen tendenziell alle verfügbaren Frauen führten, ist angesichts eines Verhältnisses von 34 Millionen männlichen gegenüber etwa 1 Million weiblichen Soldaten nicht nachvollziehbar. Wahrscheinlich hatte nur eine Minderheit von Rotarmisten, Offiziere vor allem, während des Krieges überhaupt Gelegenheit, Sexualkontakte zu Kriegsteilnehmerinnen zu unterhalten. Ob die Vergewaltigungen bei Kriegsende maßgeblich durch solche, durchaus nicht gewaltfreien Vorbilder sowie durch sexuell aufgeladene Gespräche unter Soldaten stimuliert worden sein sollen, bleibt fraglich.
So einleuchtend es ist, im ersten Kapitel ausführlich den vielfachen Druck zu schildern, dem die Rotarmisten an der Front ausgesetzt waren und den Kerstin Bischl zu Recht als Erfahrung stalinistischer Gewalt interpretiert, so wenig überzeugend ist es, die Art und Weise der Mobilisierung von Hunderttausenden Frauen in die Rote Armee nicht auch unter diesem Blickwinkel zu betrachten. Offiziell waren die Mobilisierten zwar "freiwillig" der Armee beigetreten, die Umstände der Kampagnen sowie der enorme Zeitdruck, unter dem sie stattfanden, lässt allerdings massive Zweifel an dieser "Freiwilligkeit" aufkommen. Natürlich gab es, vor allem zu Kriegsbeginn, zahlreiche Frauen, die sich freiwillig meldeten und zunächst abgelehnt wurden. Aber bei den großen Mobilisierungen des Jahres 1942 dürfte es sich in vielen Fällen lediglich formal um "Freiwilligkeit" gehandelt haben. Vielmehr haben wir es hier mit der politischen Entscheidung eines diktatorischen Regimes zu tun, das einen solch ungewöhnlichen Schritt nicht vor der eigenen Bevölkerung rechtfertigen oder gar einen Konsens darüber herstellen musste. Ebenso gehört es zum stalinistischen Umgang mit den Kriegsteilnehmerinnen, dass das Regime sie den nach Kriegsende grassierenden Schmähungen und Verleumdungen schutzlos preisgab.
Wenn die These von der kriegsbedingten Verrohung und zunehmenden Gewaltbereitschaft der Rotarmisten zutrifft (und manche Einsichten der Gewaltforschung scheinen sich ja hier zu bestätigen), fragt man sich, inwieweit dies auch auf die weiblichen Armeeangehörigen zutraf. Oder widerstanden sie selbst der Brutalisierung und mussten die sexuelle Gewalt der männlichen Soldaten nur erleiden oder sich als "Feldehefrauen" immerhin damit arrangieren? Was machte der Krieg mit den Frauen? Inwiefern veränderte sich deren Verhalten?
Irritierend ist, trotz einer salvatorischen Formulierung der Autorin, dass sie die Rote Armee weder als multinationale und überwiegend von Bauern geprägte Streitkraft in den Blick nimmt noch zwischen den unterschiedlichen Waffengattungen (Infanterie, Artillerie, Panzer, Luftwaffe) sowie den unterschiedlichen Alterskohorten unterscheidet. Auch wird nicht versucht, die Vorgänge zu wichtigen Zäsuren im Kriegsverlauf in Beziehung zu setzen. War sexuelle Gewalt gegen Frauen immer und überall gleich weit verbreitet?
Natürlich ist die Quellenlage alles andere als befriedigend, und es ist Kerstin Bischl hoch anzurechnen, wie viele (Ego-)Dokumente sie ausgewertet hat. Allerdings sind es trotzdem wohl immer noch zu wenig, um generalisierende Aussagen über die Rote Armee insgesamt zu treffen, deren sexuelle Übergriffe die Verfasserin als "Extremfall an sexueller Gewalt durch eine staatliche Armee" bewertet (314).
Angesichts der sehr knapp gehaltenen Information zum Material (25-33) erfährt man nicht genug darüber, wie repräsentativ die verwendeten Selbstzeugnisse überhaupt für die Armee im Ganzen sind. Auch wenn es zu Beginn der Studie heißt, sie taugten allenfalls dazu, "Tendenzen" aufzuzeigen, weisen die Schlussfolgerungen von Bischl dann doch in eine sehr generalisierende Richtung. Dokumente, die ihre Thesen nicht stützen, wurden offenbar gar nicht herangezogen. Deshalb ist auch die Behauptung, hier erzähle ein "mehrstimmiger Chor die Alltagsgeschichte der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg" (32) nicht schlüssig. Der "Chor" umfasst in der Tat viele Stimmen, singt aber unisono.
Anmerkung:
[1] Catherine Merridale: Iwans Krieg. Die Rote Armee 1939-1945, Frankfurt/M. 2006
Beate Fieseler