Detlev Brunner: Einheit und Transformation. Deutschland in den 1990er Jahren, Stuttgart: W. Kohlhammer 2022, 213 S., ISBN 978-3-17-033244-7, EUR 30,00
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Detlev Brunner / Michaela Kuhnhenne / Hartmut Simon (Hgg.): Gewerkschaften im deutschen Einheitsprozess. Möglichkeiten und Grenzen in Zeiten der Transformation, Bielefeld: transcript 2018
Es gibt offenbar eine wachsende Nachfrage nach Studien zur deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte, die die Entwicklungen in der Bundesrepublik und DDR als gemeinsame Geschichte in den Blick nehmen und nicht nur nach Trennendem, sondern auch nach Parallelen und Verflechtungen Ausschau zu halten. In jüngster Zeit sind jedenfalls in mehreren Verlagen (beispielsweise Metropol, be.bra) Untersuchungen erschienen, die sich diesem Ansatz verpflichtet fühlen. Das gilt auch für das vorliegende Werk, das als Abschlussband einer siebenbändigen Reihe firmiert, die sich nicht nur an ein Fachpublikum, sondern auch an Studierende und historisch Interessierte richtet. Der Autor ist ein ausgewiesener Experte, der sich zuletzt intensiv mit der Rolle der Gewerkschaften im Transformationsprozess beschäftigt hat. Sein Band bietet in knapper Form einen ersten, informativen Überblick über wichtige Stränge der Umbrüche in den 1990er Jahren, die zunächst einmal mit voller Wucht Ostdeutschland trafen, allerdings auch schon bald direkte und indirekte Folgen (Ko-Transformation) für Westdeutschland und das geeinte Deutschland hatten.
Der Band ist übersichtlich in acht Kapitel gegliedert; der Aufbau ist klar und nachvollziehbar. Während die ersten beiden Kapitel chronologisch angelegt sind, folgen die weiteren Kapitel einer sachthematischen Gliederung. Brunner stützt sich vor allem auf ausgewählte Sekundärliteratur, gedruckte Quellen (z.B. Bundestagsprotokolle), aber auch Presseberichte und demoskopische Umfragen. Auf diese Weise berücksichtigt er anschaulich die zeitgenössische, öffentliche und veröffentlichte Meinung. Das Buch ist flüssig geschrieben. Dazu gehört auch, dass Brunner der Leserschaft immer wieder thesenartige, teilweise auch sehr zugespitzte Interpretationen anbietet, die zweifellos die wissenschaftliche Diskussion anregen werden.
Der Autor beschreibt zunächst die unmittelbare Vorgeschichte der friedlichen Revolution 1989 und betont zu Recht die enorme Dynamik der Entwicklung, die mit dem Mauerfall am 9. November 1989 einsetzte. Bis zur Herstellung der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 - das heißt in nur wenigen Monaten - änderte sich das Koordinatensystem für die ostdeutsche Bevölkerung nahezu vollständig: in politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht. Selbstermächtigung und Selbstdemokratisierung waren zwar vorherrschende Kennzeichen dieser kurzen Zeitphase. Doch zur Euphorie über das sich abzeichnende Ende des SED-Regimes und die gewonnene Freiheit gesellte sich rasch die Unsicherheit über die eigene Zukunft. Eine Zäsur bildete die Volkskammerwahl am 18. März, denn sie beendete die Suche nach einem dritten Weg und beschleunigte die Fahrt in Richtung staatliche Vereinigung. Anschließend beschäftigt sich Brunner mit Fragen des nationalen Selbstverständnisses der Deutschen im Untersuchungszeitraum und mit dem Sehnsuchtsort der "inneren Einheit", der bei den öffentlichen Feierlichkeiten zum 3. Oktober in jüngster Zeit zunehmend kritisch reflektiert wird. Er betont ferner die zunehmende ethnische und kulturelle Pluralität und die diskursiven Sinnstiftungen ("Leitkultur").
Das mit Abstand umfangreichste Kapitel ist der wirtschaftlichen Transformation und ihren Folgen gewidmet. Brunner analysiert in gebotener Kürze die Ausgangslage der DDR-Wirtschaft und unterstreicht die zentrale Bedeutung der Währungsunion für die ökonomische Talfahrt in den sogenannten neuen Bundesländern ab 1990/91. Breiten Raum nimmt die Treuhandanstalt ein, der er eine entscheidende Funktion beim Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft attestiert. Es folgen Abschnitte, die sich mit den finanziellen Kosten der Einheit und der Massenarbeitslosigkeit beschäftigen. Letzteres stellte zahlreiche Ostdeutsche vor eine enorme Herausforderung, denn die Privatisierung der Treuhandbetriebe war mit dem Verlust vieler Industriearbeitsplätze verbunden. Abschließend geht der Autor noch auf die Lohn- und Tarifpolitik sowie auf den sozialpolitischen Sparkurs der schwarz-gelben Bundesregierung unter Kanzler Helmut Kohl (CDU) ab Mitte der 1990er Jahre ein.
In diesem Kapitel rächt es sich, dass Brunner die in jüngster Zeit publizierte Literatur, die auf der Auswertung neu zugänglicher Akten basierte, nicht rezipiert hat [1]. So ist der dichotome Gegensatz zwischen Sanierung und Privatisierung, der die öffentliche Debatte über die Behörde und ihren Privatisierungskurs bis heute maßgeblich beeinflusst hat, so nicht haltbar, denn beide Aufgaben ließen sich in der Verwaltungspraxis häufig gar nicht voneinander trennen. Gleiches gilt für die pauschale Kennzeichnung der Treuhandanstalt als "Transformationsagentur" (59). Die Behörde, die dem Bundesfinanzministerium unterstand, war vielmehr einer von mehreren Akteuren, die an der Privatisierung ostdeutscher Betriebe beteiligt waren - manchmal sogar nicht der wichtigste (etwa bei den Werften in Mecklenburg, dem Chemiedreieck oder dem Eisenhüttenkombinat Ost). Insbesondere bei den "industriellen Kernen" war der politische Einfluss der Bundesregierung, aber auch der Europäischen Gemeinschaft (EG) von ausschlaggebender Bedeutung. Darüber hinaus beklagt Brunner die "kaum befriedigend[e]" (62) Beteiligung der Gewerkschaften an der Transformation der ostdeutschen Wirtschaft. Abgesehen davon, dass unklar bleibt, wie eines solche Beteiligung hätte aussehen sollen, war das Hauptproblem, dass die Arbeitnehmerorganisationen Anfang der 1990er Jahre kein einheitliches Bild boten, was ihre Mitwirkung in der Treuhandanstalt, aber auch in den Treuhandunternehmen anging. Mit seinem Urteil, das sozialwissenschaftlichen Debatten über die fehlende Partizipation im Transformationsprozess folgt, übersieht er die zeitgenössische Haltung der Gewerkschaften, die ambivalent und höchst widersprüchlich war. Brunner räumt an anderer Stelle auch selbst ein, dass Gewerkschaftsvertreter keine Kritik an der fehlenden Mitbestimmung geäußert hätten [2].
Im Mittelpunkt des fünften Kapitels stehen die demografischen Veränderungen in den 1990er Jahren, die von einer starken Ost-West-Wanderung geprägt waren. Brunner sieht in der alternden Gesellschaft in Ostdeutschland eine Folge der sozioökonomischen Verwerfungen. Hier wäre ein Hinweis hilfreich gewesen, dass die DDR durch Flucht und Ausreise ("Republikflucht") bereits Ende der 1950er Jahre eine überalterte Gesellschaft war. Anschließend thematisiert er die Migrationsbewegungen nach Deutschland unter anderem infolge des Bürgerkriegs in Jugoslawien und skizziert die emotional geführte Debatte über die Einschränkung des Asylrechts. Das nachfolgende Kapitel untersucht verfassungsrechtliche Entwicklungen und den Umgang mit dem aufflammenden Rechtsextremismus, der Ost und West in einem erschreckenden Ausmaß mit einer Welle von Gewalttaten, regelrechten Hetzjagden und Brandanschlägen überzog. Das achte Kapitel ist der europäischen Integration und den neuen außenpolitischen Herausforderungen gewidmet, vor denen die Berliner Republik stand. Dabei kann der Autor nur ganz kursorisch auf die Osterweiterung von EG beziehungsweise Europäischer Union und NATO, den zweiten Golfkrieg 1991 und den Kosovo-Krieg eingehen. Das Kapitel endet mit den Terroranschlägen auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001. Abschließend thematisiert Brunner Mentalitäten und kulturelle Trends: von der sogenannten Ostalgie über sich wandelnde Geschlechterverhältnisse bis hin zur Entwicklung einer multikulturellen Vielfalt im geeinten Deutschland, wobei er der Technomusik und der Loveparade, die alljährlich Hunderttausende nach Berlin zog und primär ein internationales, aber nicht gesamtdeutsches Ereignis war, etwas zu viel Platz einräumt.
Trotz aller Kritik hat Brunner eine kurze, instruktive Einführung in die Geschichte der Transformationszeit der 1990er Jahre vorgelegt. Ein Wermutstropfen bleibt allerdings: Das Buch ähnelt in Aufbau und Struktur sehr stark einer Publikation, die der Autor gemeinsam mit Günther Heydemann Ende 2021 für die Bundeszentrale für politische Bildung verfasst hat [3]. Der von Brunner verfasste Teil, ist in gekürzter Form (mit Tabellen und Abbildungen) in den vorliegenden Band übernommen worden - teilweise wurden ganze Absätze wortgleich wieder abgedruckt, ohne dass der Verfasser das in der Einleitung oder im Anmerkungsapparat explizit ausgewiesen hat. Für eine Publikation, die sich auch an Studierende richtet, die gutes wissenschaftliches Arbeiten lernen sollen, ist das ein höchst ärgerlicher Befund!
Anmerkungen:
[1] Vgl. etwa Jann Müller: Die Wiederbegründung der Industrie- und Handelskammern in Ostdeutschland im Prozess der Wiedervereinigung, Stuttgart 2017; Louis Pahlow / André Steiner: Die Carl-Zeiss-Stiftung in Wiedervereinigung und Globalisierung 1989 bis 2004, Göttingen 2017; Norbert F. Pötzl: Der Treuhand-Komplex. Legenden. Fakten. Emotionen, Hamburg 2019; Christian Rau: Von Gegnern zu Partnern? Der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Medienöffentlichkeit der Bundesrepublik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 67 (2019), 409-437.
[2] Detlev Brunner: Mitbestimmung und Protest. Ostdeutschland in der Transformationsphase der 1990er Jahre, in: Dierk Hoffmann / Ulf Brunnbauer (Hgg.): Transformation als soziale Praxis. Mitteleuropa seit den 1970er Jahren, Berlin 2020, 93-107, hier 97.
[3] Detlev Brunner / Günther Heydemann: Die Einheit und die Folgen. Eine Geschichte Deutschlands seit 1990, Bonn 2021.
Dierk Hoffmann