Simonetta Prosperi Valenti Rodinò / Sonja Brink (Hgg.): Drawings by Carlo Maratti in the collection of the Kunstakademie Düsseldorf at the Kunstpalast, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2024, 440 S., 763 Farb-, 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-7319-1185-2, EUR 89,00
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Um über Zeichnungen zu schreiben / zu urteilen, benötigt man ein großes Maß an Erfahrung, vor allem aber ein wohltrainiertes Auge. Umso verdienstvoller das Unternehmen, zu dem sich zwei Kunsthistorikerinnen von Format gefunden haben, um den umfangreichen Zeichnungsbestand des römischen Künstlerfürsten Carlo Maratti (Camerano 1625-1713 Rom) [1] in Düsseldorf aufzuarbeiten. Sonja Brink, die ehemalige Kustodin der Akademie-Sammlung und Simonetta Prosperi Valenti Rodinò, Professorin an der Università di Roma, Tor Vergata und Spezialistin für Barockzeichnung haben die 560 Blätter (davon 450 Originale) der Düsseldorfer Akademie-Sammlung - Teil der sogenannten Krahe-Sammlung, die als Leihgabe der Düsseldorfer Kunstakademie in der Graphischen Sammlung des Kunstpalastes verwahrt wird - gesichtet und wissenschaftlich bearbeitet. Diese Zeichnungen stellen den umfangreichsten Bestand des römischen Barockkünstlers dar, größer als die Sammlungen in Madrid und in Windsor Castle. Der Katalog ist für ein internationales Publikum in Englisch und Italienisch erschienen.
Eingangs informiert Brink über das Maratti-Konvolut der Akademie-Sammlung, seine Entstehung, Gestalt und Wirkung, sowie die langwierige Entwicklung dieses Bestands-Kataloges (11-17). Es wird Auskunft gegeben über die Vorarbeiten von Eckhard Schaar, der in den 1960er Jahren zusammen mit Ann Sutherland Harris die wissenschaftliche Aufarbeitung des Düsseldorfer Maratti-Bestandes sowie der Zeichnungen Andrea Sacchis in einem Band vorstellte. [2] Bei der Bearbeitung der Zeichnungsbestände der Krahe-Sammlung folgten Publikationen großer Konvolute aus der Maratti-Schule: von Calandrucci und Passeri (Dieter Graf), von Pietro da Cortona und seinem Kreis (Jörg M. Merz), der eindrucksvolle 'Krahe-Katalog' und 'Die italienischen Zeichnungen des 15. und 16. Jahrhunderts' sowie Ausstellungs-Kataloge kleinerer Zeichnungsbestände der römischen Schule, wie Pier Francesco Mola, Antonio Molinari, Giovanni Baglione (Sonja Brink), Giovanni Lanfranco (Erich Schleier) und Giovan Battista Beinaschi (Francesco Grisolia). Seit Mitte der 2010er Jahre erfolgte die durch die 2013/14 in Rom organisierten Symposien zu Ehren Carlo Marattis angestoßene Aufnahme der Forschungen zu einem Bestandskatalog durch Simonetta Prosperi Valenti Rodinò. [3] Dadurch kamen zu den publizierten Erkenntnissen eine Reihe neuer Zusammenhänge (64 Kat. Nrn.) und Zuschreibungen zustande, etliche Zuordnungen von Schaar mussten korrigiert (10 Kat. Nrn.) und neu verortet werden. Eine Reihe von Zeichnungen lagen bei den unbekannten Blättern und wurde von den Forscherinnen als Maratti erkannt (Siehe u.a. Kat. Nrn. 50, 236, 342, 365, 380). Dass keine begleitende Ausstellung zustande kam, verschuldet das Desinteresse der involvierten Institutionen, die allein dem Event-Effekt der Kunst Aufmerksamkeit zollen.
Mit einem Ausflug in die Tradition der Zeichnungsforschung begründet Brink die wissenschaftliche Bearbeitung und Publikation der Zeichnungsbestände über die reine Konservierung der Objekte hinaus. Denn um sie angemessen der Nachwelt weiter zu geben und sie wertzuschätzen, braucht es das Wissen um ihre Entstehung, ihre innere Bedeutung und ihren historischen Stellenwert, so die Autorin. Mit einer Danksagung schließt die Übersicht.
Die ausgezeichnete, prächtig bebilderte Arbeit von Prosperi Valenti Rodinò, hervorgegangen aus einer langjährigen Forschungsarbeit und einer Vielzahl von Aufsätzen, liefert eine mustergültige Bearbeitung des Düsseldorfer Maratti-Bestandes. Der Katalog ist in sieben Kapitel und einen abschließenden Anhang gegliedert, die aufeinander aufbauend und ergänzend sowie durch knappe Einleitungen in einen zeitlichen Rahmen integriert sind. In der Einführung, die mit dem bombastischen Selbstbildnis Carlo Marattis in den Brüsseler Musées des Beaux-Arts eröffnet wird, bietet die Gelehrte einen Überblick zu den Zeichnungen und Blattfolgen Marattis in Düsseldorf und beschreibt neue Verbindungen zu Zeichnungen anderer Bestände bzw. zu vollendeten Werken. Sie kommt zu dem Schluss, dass Marattis grafisches und malerisches Werk weitgehend als rekonstruiert angesehen werden kann.
Eine Rückschau in die Geschichte der Düsseldorfer Sammlung und ihrer Provenienzen beleuchtet die Sammelaktivitäten des umtriebigen Malers und Akademiedirektors Lambert Krahe (1712-1790) in Rom und den Verkauf der Zeichnungen an die Bergischen Landstände als Studienmaterial für die Düsseldorfer Kunstakademie (20f.). Die aus dem Besitz der Familie Ghezzi erworbenen Zeichnungen sind, wie der Madrider Maratti-Bestand Studienmaterial - Draperien, Aktdarstellungen, Köpfe und Glieder - und nur wenige fertige Kompositionen und Modelli, wie sie in Windsor, im Louvre, British Museum u.a. präsent sind. Neben dem beachtlichen Teil der Zeichnungen von Carlo Maratti befinden sich Blätter seiner zahlreichen Schüler, Passeri, Calandrucci, Melchiorri, de'Pietri usw. in der Krahe-Sammlung. Prosperi Valenti Rodinò unterstreicht, dass der Düsseldorfer Maratti-Bestand als 'Werkstattreste' unmittelbar aus dem Atelier des Malers kommt. Als akademischer Künstler hatte Maratti seine Kompositionen eigenhändig durch Skizzen und Studien detailliert vorbereitet. Insofern ermöglicht das Düsseldorfer Konvolut der Forschung, so die Autorin, die rund 65 Jahre seiner künstlerischen Tätigkeit getreulich nachzuvollziehen (22f.) und sein gesamtes malerisches Schaffen daran zu überprüfen; auch wenn der Meister die Ausführung mitunter an Schüler delegierte (25f.).
Dies unternimmt die Autorin, indem sie anhand der Zeichnungen in akribischer Arbeit die Schaffensphasen des Künstlers herausfiltert. In Zehnjahresschritten von 1644 bis 1710 ordnet sie Zeichenblätter den entsprechenden Gemälden zu. Die bei Schaar unter "Federzeichnungen" beschriebenen Blätter datiert die Forscherin in die Frühphase der 1640er Jahre, in denen Maratti noch unter dem Einfluss des Bologneser Klassizismus stand. Hier finden sich auch Kompositions-Entwürfe (37-49) sowie eine großartige Hieronymus-Studie in Rötel und brauner Feder (38f.). Nur wenige Studien dieser Zeit lassen sich mit Gemälden Marattis verbinden (50-55). Bereits in den 1650er Jahren wird Marattis Strich prägnanter (67ff.) die Kompositionen ausgewogener. Schwarze Kreide kommt hinzu, die scharfe Linien und stärkere Kontraste zulässt (121-125), weiße Höhung erzeugt Plastizität und blaues Papier intensiviert die Röte der Kreide (84f.). Es vollzieht sich ein Wandel in Technik und Stil (96-129). Durch Aufträge für römische Kirchen in den 1670er Jahren entsteht eine Vielzahl von Zeichnungen (130-185). Altar- und Heiligenbilder sind in Düsseldorf durch Figuren- und Detailstudien dokumentiert, die äußerst realitätsgetreu einen reiferen Stil bekunden. Die Forscherin belegt das mit der Zeichnungs-Suite zum Tod des Heiligen Franz Xaver im Gesù (174-181) und weiteren Gemälden zugeordneten Blättern. Bemerkenswert ist auch der einzige Entwurf für das Fresko im Palazzo Altieri (27, 157f.). In den 1680er Jahren bis etwa 1695 entstehen Federskizzen über Rötel, wie die Komposition Apollo und Daphne zum Brüsseler Gemälde (191-197) und die flüssig vorgetragene Federstudie zur Immaculata Conceptio mit Heiligen in S. Maria del Popolo, Rom (206ff.). Die letzten zwei Jahrzehnte macht sich das Alter im Schaffen des Malers bemerkbar. Der Strich wird dünner und fahriger, Pentimenti häufen sich in den Studien (26, 306). In diese Jahre fallen auch die Studien zum Tempel der Tugend (1696-1706), darunter das Selbstporträt "Le Portrait en grand de l'auteur" (Krahe) (288). Den Abschluss des Katalogs bilden die Kapitel "Zeichnungen für Kupferstiche" (311-335), "Zeichnungen für verlorene, unauffindbare oder nicht ausgeführte Werke" (336-369), "Zeichnungen, bei denen die Zuschreibung an Maratti nicht akzeptiert wird" (370-381), "Kopien und zweifelhafte Zuschreibungen" (382-407) und "Zeichnungen von anderen als Marattis Händen" (408-411).
Für Carlo Maratti war die Zeichnung vorrangig Mittel zum Zweck. Sein Werkprozess ist eine Folge von Skizzen, Entwürfen und Studien. Meist beginnt er die Skizze in Rötel, überarbeitet sie dann mit Feder und Tusche, um die Posen der Figuren und Details zu präzisieren (344f.). Meisterhaft verstand er es, durch Schraffuren die Plastizität der Figuren herauszuarbeiten und ihre Wirkung durch Höhungen zu steigern. Die drei Rötelstudien zum Pendentif des Balaam in St. Peter, Rom (234f.) veranschaulichen den Findungsprozess der Figurenstudien Marattis: lineare Skizze, dann die Kleiderstudie, schließlich die vollplastisch wirkende Figuren-Studie, die zur Übertragung auf die Leinwand geeignet ist.
In summa: Die Bearbeitung des Düsseldorfer Bestandes Marattis überzeugt durch die gründliche und vielfältige Analyse der Zeichnungen und ihrer Kontextualisierung sowie durch die souveräne Beherrschung der Materialfülle. Erfreulich sind die zahlreichen neuen Erkenntnisse, Funde und Zuschreibungen sowie das detaillierte Bild von Marattis disegnatorischem Œuvre. Der anfangs formulierte Anspruch wird damit bestens eingelöst. Auf die weitere Forschung der Kunsthistorikerin, wie z.B. den Gemäldekatalog Marattis, darf man gespannt sein, zumal die ausgezeichneten Referenzabbildungen (99 Abb.) des Zeichnungskatalogs ein umfassendes Bild des malerischen Werks einschließen.
Anmerkungen:
[1] Carlo Maratti (auch Maratta) wird als Hauptvertreter der klassischen Tradition im italienischen Spätbarock gefeiert, der in seiner Malerei disegno und colore vereinigt hat. Als principe der römischen Kunstakademie und als führender Maler mit großem Atelier war er der einflussreichste Maler seiner Zeit.
[2] Eckhard Schaar / Ann Sutherland Harris: Die Handzeichnungen von Andrea Sacchi und Carlo Maratta, Düsseldorf 1967.
[3] Maratti e l'Europa, a cura di Liliana Barroero / Simonetta Prosperi Valenti Ro-dinò / Sebastian Schütz, Rom 2015; Maratti e la sua fortuna, a cura di Sibylle Ebert-Schifferer / Simonetta Prosperi Valenti Rodinò, Rom 2016.
Dietmar Spengler