Alfred Kohler / Barbara Haider / Christine Ottner (Hgg.): Karl V. 1500 - 1558. Neue Perspektiven seiner Herrschaft in Europa und Übersee (= Zentraleuropa-Studien; Bd. 6), Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2002, 819 S., ISBN 978-3-7001-3054-3, EUR 46,00
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Von der Faszination, die von der Person Kaiser Karls V. bis heute ausgeht, künden nicht nur die Besucherzahlen der anlässlich seines 500. Geburtstages veranstalteten Ausstellungen, sondern auch die zahlreich erschienene "Jubiläumsliteratur". Zu einer der - auch im wörtlichen Sinn - gewichtigeren Publikationen darf man den vorliegenden Sammelband zählen. Hervorgegangen aus einem von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften im März 2000 veranstalteten Symposium vereint der Band Beiträge von 36 Forscherinnen und Forschern aus acht europäischen Ländern und den USA. Ihnen war die Aufgabe gestellt, "Bilanz der bisherigen Forschung zu ziehen, [...] Desiderate zu formulieren und Perspektiven für die künftige Forschung zu entwickeln" (1), so der für die inhaltliche Ausrichtung verantwortliche Herausgeber Alfred Kohler in seiner Einleitung.
In sechs großen Abschnitten werden Regierung und Herrschaft Karls V. umrissen: Den ersten beiden sachlich wie räumlich übergreifend angelegten Bereichen - (1) "Selbstdarstellung, Propaganda und Traditionsbildung" (mit Beiträgen von Alfred Kohler, Rainer Wohlfeil, Artur Rosenauer, Franz Römer, Franz Bosbach, Alfredo Alvar Ezquerra, José Martinez Millán) und (2) "Herrschaftsidee, Kommunikations-, Wirtschafts- und Finanzstrukturen" (mit Beiträgen von James D. Tracy, Renate Pieper, Miguel-Àngel Ochoa Brun, Hans-Joachim König, Martin Dallmeier, Friedrich Edelmayer) - folgen zwei Sektionen, welche die einzelnen Herrschaftsbereiche Karls V. vorstellen. In sieben Beiträgen (Christine Roll, Albrecht P. Luttenberger, Helmut Neuhaus, Christopher R. Laferl, Georg Heilingsetzer, Jaroslav Pánek, Wolfgang Reinhard) wird das Themenfeld (3) "Karl V. und das Heilige Römische Reich" abgehandelt, wobei den komplizierten Beziehungen Karls V. zu seinem Bruder Ferdinand die besondere Aufmerksamkeit gilt. Dabei werden nicht nur die Beziehungen Ferdinands zu seinem kaiserlichen Bruder in seiner Eigenschaft als Römischer König (seit 1531) reflektiert, sondern auch diejenigen, die ihn als Herr über die kaiserlichen Erblande in Mitteleuropa und als böhmischer König (seit 1526) mit Karl in Kontakt brachten. Gegenüber dem Reich eher stiefmütterlich behandelt werden die anderen kaiserlichen Herrschaftsgebiete (4) "Die Niederlande, Spanien und Amerika" (Wim Blockmans, Laetitia Gorter-van Royen, Hugo de Schepper, Juan Antonio Vilar Sánchez, Horst Pietschmann, Peer Schmidt). Der 5. Abschnitt behandelt "Kontrahenten und Partner der kaiserlichen Politik", wiederum, von der Natur der Sache her zwangsläufig, in einer gemeineuropäischen Perspektive (Rainer Babel, M.J. Rodríguez-Salgado, Michael Bregnsbo, Ernst D. Petritsch, Heinz Duchhardt, Franz Brendle). Der letzte Teil (6) "Der Kaiser lebt weiter" - zur Rezeptionsgeschichte Karls V." widmet sich der Memoria des Kaisers in Geschichtsschreibung und Literatur (Andrea Sommer-Mathis, Martina Fuchs, Elisabeth Klecker, Raymond Fagel). Ein Personen- und Ortsregister beschließt den Band.
Man wäre gezwungen, gleichsam den 37. Beitrag zum Symposium zu schreiben, würde man versuchen, jeden einzelnen Aufsatz des Bandes angemessen zu würdigen. Da sich Alfred Kohler in seiner Einleitung dankenswerter Weise der Mühe unterzogen hat, die Beiträge mit einem knappen Inhaltsreferat vorzustellen (1-7), fällt der Verzicht auf eine solch "ausgewogene" Rezension leichter. Stattdessen seien neben einigen grundsätzlicheren Anmerkungen einige Lesefrüchte präsentiert, die jedoch - dies sei nachdrücklich betont - keinesfalls implizit eine Aussage über die wissenschaftliche Validität der anderen Beiträge machen, sondern allein die thematischen Annäherungen ausführlicher vorstellen, die für die Rezensentin in ihrer subjektiven Rezeptionsperspektive von besonderem Erkenntnisgewinn gewesen sind.
Auch wenn es zweifellos verfrüht wäre, bereits zum jetzigen Zeitpunkt, da die Publikation der Ergebnisse der anderen wissenschaftlichen Tagungen zum Thema größtenteils noch aussteht, Bilanz über den durch das Jubiläum erzielten wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt ziehen zu wollen, sei die Prognose gewagt, dass der Sammelband zu dem Teil der Jubiläumsliteratur zählt, der Bestand haben wird. Wer sich künftig umfassend und auf der Grundlage des aktuellen Forschungsstandes informieren möchte, kommt an ihm nicht vorbei. Dass die Defizite des Forschungsstandes, wie etwa zu Karls V. Herrschaft in Amerika oder - trotz der herausragenden Darstellung von Heinrich Lutz [1] - zum letzten dramatischen Dezennium seiner Herrschaft im Reich, manchmal expliziert werden, des öfteren aber nur implizit zu erschließen sind, ist bedauerlich. Dem mit der Materie weniger vertrauten Leser wird es daher schwer fallen, und dies ist ja eines der zentralen Anliegen des Bandes, Perspektiven künftiger Forschung zu erkennen.
Ähnlich ambivalent zu beurteilen ist auch die inhaltliche Gewichtung des Bandes. Wenn man weiß, dass im Jahr 2000 acht weitere wissenschaftliche Tagungen abgehalten wurden, davon gleich sechs in Spanien, macht die Entscheidung, im "Länderteil" des Bandes der reichischen Perspektive besondere Aufmerksamkeit angedeihen zu lassen, guten Sinn. Sie läuft freilich auch Gefahr, die im deutschen Sprachraum verbreitete Perspektivierung von Karls V. Herrschaft und Regierung zu tradieren.
Obwohl damit die mitteleuropäische Dimension der Herrschaft Karls V. ins Zentrum der Betrachtung gerückt wird, bleibt gegenüber der intensiven Erörterung des Verhältnisses der beiden habsburgischen Brüder die Darstellung der Beziehungen Karls und Ferdinands zu ihrer Schwester Maria (seit 1531 Regentin der Niederlande) blass. Wie wichtig für das Verständnis des habsburgischen Herrschaftssystems unter Karl V. aber die Geschwisterbeziehungen in ihrer Gesamtheit waren, tritt im Beitrag von Christine Roll zu den "kaiserlosen Zeiten" im Reich deutlich zutage. Der Beitrag von Laetitia Gorter-van Royen, der sich mit "Maria von Ungarn als Regentin der Niederlande" auseinandersetzt, kann komplementär zum Beitrag Rolls gelesen werden, veranschaulicht Gorter-van Royen doch die von Roll für die Jahre nach 1530 konstatierte Konsolidierung des Systems der Regentschaften am niederländischen Beispiel. Doch über die Art und Weise, wie die von Wim Blockmans ("Der Kaiser und seine niederländischen Untertanen") und Hugo de Schepper ("Die Einheit der Niederlande unter Karl V. - Mythos oder Wirklichkeit") geschilderte dynamische Entwicklung in den Niederlanden in der politischen Kommunikation der casa d'Austria, die das habsburgische Herrschaftssystem zur Zeit Karls V. konstituierte, Niederschlag fand, ist nichts zu erfahren. Hier ist erneut eine empfindliche Forschungslücke zu konstatieren. Der 1999 erfolgte Abschluss des Projekts der Konstanzer Forschergruppe um Horst Rabe zur Erschließung der "politischen Korrespondenz" Karls V. erlaubt es nun jedoch, solche Fragestellungen auf neuer Grundlage anzugehen. Wie ergiebig und unerlässlich für die Erforschung von Herrschaft und Regierung des Kaisers ein kommunikationsgeschichtlicher Zugang ist, verdeutlicht auch der Beitrag von Christopher F. Laferl ("Sprache - Inhalt - Hierarchie unter Brüdern. Zum Verhältnis zwischen Karl V. und Ferdinand I. in der Familienkorrespondenz Ferdinands I. (1533/34)"). Und so kann man sich Laferls Plädoyer nur anschließen, die wissenschaftliche Erschließung der "Familienkorrespondenz" Ferdinands zu beschleunigen, die ansonsten, wird das Editionstempo der Vergangenheit beibehalten, erst - wie Laferl errechnet - im Jahr 2558 abgeschlossen sein würde.
Erste Ansätze eine weitere Forschungslücke zu schließen, die Kohler selbst benennt, liefert bereits der vorliegende Band, wenn in seinem ersten Abschnitt zumindest etliche der zeitgenössischen Sinnstiftungs- und Deutungsangebote vorgestellt werden, die entweder auf die aktuelle oder künftige Rezeption von Karls Person und Wirken zielten. Überträgt man die Erkenntnis der neueren Reformationsgeschichtsschreibung, dass es gerade die von den Zeitgenossen angebotenen Sinnhorizonte waren, die noch bis in unsere eigene Gegenwart das Geschichtsbild bestimmten, auf das Thema "Karl V.", dann wird man auch die - wie die Beiträge der sechsten Sektion veranschaulichen - divergierenden Formen der "Erinnerung" an Karl V. und seine Herrschaft in den einzelnen Ländern seiner Herrschaftsgebiete künftig besser verstehen. Auffallend ist etwa, dass der von Martina Fuchs ("Karl V. in der deutschsprachigen Belletristik - eine populäre Figur?") erarbeitete Befund, dass Karl V. in der deutschen und österreichischen Literatur des 17. bis 20. Jahrhunderts letztlich eben keine populäre Figur war, mit der Beobachtung Wohlfeils ("Grafische Bildnisse Karls V. im Dienste von Darstellung und Propaganda") übereinstimmt, dass Karl V. weitgehend darauf verzichtete, das Bild (im doppelten Wortsinn), das man sich im Reich von ihm machte, mittels der neuen medialen Möglichkeiten gegenüber einer weiteren Öffentlichkeit gezielt zu beeinflussen. Insbesondere die Aufsätze Wohlfeils und Franz Bosbachs ("Selbstauffassung und Selbstdarstellung Karls V. bei der Kaiserkrönung in Bologna") werden hier weiterer Forschung wichtige Anknüpfungspunkte bieten.
So sehr also die - so Kohler - ikonographischen, in weiterem Sinn kulturgeschichtlichen Fragestellungen verpflichteten Zugangsweisen zu Person und Zeit Karls V. Erkenntnisfortschritte erwarten lassen, so unzulänglich wäre es, sie allzu ausschließlich in den Vordergrund zu rücken. Insbesondere die Beiträge von James D. Tracy ("Der Preis der Ehre: Die Finanzierung der Feldzüge Kaiser Karls V.") und Renate Pieper ("Wirtschaftsräume und Wirtschaftsbeziehungen im Reich Karls V."), die ein weiteres, bislang völlig zu Unrecht vernachlässigtes Forschungsfeld beackern, erweisen, wie fruchtbar auch "klassische", hier: finanz- und wirtschaftsgeschichtliche Zugriffsweisen sind, um unsere Erkenntnisse über das Herrschaftssystem Karls V. entscheidend zu erweitern. Denn beide kommen in wirtschafts- und finanzgeschichtlicher Perspektive zur übereinstimmenden Auffassung, dass - so Pieper bezogen auf die Handelsbeziehungen - "die Iberische Halbinsel im Zentrum des imperialen Netzes stand" (178). Die schon von Heinrich Lutz betonte Randständigkeit der deutschsprachigen Länder im politischen System Karls V. wird hier unter anderem Blickwinkel eindrucksvoll bestätigt und macht neugierig auf den Ertrag der spanischen Tagungen zu Carlos I.
Anmerkung:
[1] Heinrich Lutz: Christianitas afflicta. Europa, das Reich und die päpstliche Politik im Niedergang der Hegemonie Kaiser Karls V. (1552-1556), Göttingen 1964.
Gabriele Haug-Moritz