Martin Klimke / Joachim Scharloth (eds.): 1968 in Europe. A History of Protest and Activism, 1956-77, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2008, 336 S., ISBN 978-0-230-60619-7, EUR 56,99
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"1968" gehört zu den umstritteneren Daten der jüngeren Zeitgeschichte. Um diese Chiffre ranken sich zahlreiche Mythen, die nicht nur die mediale Öffentlichkeit immer wieder beschäftigen; seit dem Ende der 1990er Jahre erlebt auch die historische Forschung einen Boom. Das Hauptaugenmerk liegt dabei allerdings nach wie vor auf den verschiedenen nationalen Protestbewegungen. Erst in Ansätzen ist dagegen die Frage untersucht, ob 1968 tatsächlich ein globales Phänomen war, wie das die zeitgleichen Ereignisse in immerhin 56 Ländern suggerieren. Uneinigkeit herrscht darüber hinaus über den transnationalen Charakter des Aufbegehrens. Befruchteten sich die Bewegungen gegenseitig und kam es wirklich zu der "Weltrevolution", die die Bewegten selbst auszumachen glaubten?
In diese Forschungslücke stoßen nun die beiden jungen Wissenschaftler Martin Klimke und Joachim Scharloth. Pünktlich zum vierzigsten "Dienstjubiläum" der Revolte hat das deutsch-schweizerische Herausgeberduo ein Handbuch zu "1968" in Europa vorgelegt. In insgesamt 25 Einzelbeiträgen untersucht eine internationale Riege vorwiegend jüngerer Forscher die gemeinsamen Wurzeln der Protestbewegungen, die Ereignisse um 1968 in 16 ausgewählten europäischen Staaten sowie deren Folgen und Wirkungen. Besonderer Wert wurde dabei auf die Vergleichbarkeit gelegt. So sind die einzelnen Beiträge nach einem gemeinsamen Raster verfasst, das es dem Leser ermöglicht, einen schnellen Überblick über Entstehungsbedingungen, Schlüsselereignisse und Formen des Protests zu gewinnen; auch die Frage nach dem transnationalen Charakter der Bewegungen wird thematisiert. Positiv zu vermerken ist, dass das Handbuch nicht nur west-, sondern auch osteuropäische Länder in den Blick nimmt. Der Band erschließt damit ein Terrain, das bisher nicht jedem Interessierten zugänglich war. Schade ist nur, dass die Beschränkung auf den europäischen Raum ebenso wenig problematisiert wird wie die Auswahl der Fallbeispiele. Warum etwa die USA ausgespart wurden, obwohl die dortige Protestbewegung nachweislich stark auf Europa ausstrahlte, bleibt ungeklärt. Zudem fehlt im europäischen Länderkanon die Republik Österreich.
Inhaltlich sind zwei wichtige Ergebnisse festzuhalten: Zum einen können die Autoren deutlich machen, dass die Proteste in den westeuropäischen Ländern grundsätzlich von denen im Ostblock zu trennen sind, wie Jan Pauer für die Tschechoslowakei, Boris Kantzleiter für Jugoslawien und Máté Szabó für Ungarn fast gleichlautend betonen. So müssen die Bewegungen in diesen Ländern letztlich als Reformbewegungen eingestuft werden, die sich nicht gegen das jeweilige politische System an sich, wohl aber gegen dessen spezifische Ausprägungen richteten. Wie Stefan Garsztecki darüber hinaus für Polen zeigen kann, lässt sich keineswegs in allen Fällen von rein äußerlichen Ähnlichkeiten auf tatsächliche west-östliche Transferleistungen schließen. Zum anderen wies der Protest auch in Westeuropa große nationale Unterschiede auf. Das gilt insbesondere für die Trägerschichten der Revolte. Während etwa in Skandinavien die Unruhe primär in studentischen Kreisen ihren Ursprung hatte, konstatieren Niall Ó Dochartaigh für Nordirland und Nicole Peters für die Schweiz, dass den Bewegungen nicht nur junge Akademiker aus bürgerlichen Elternhäusern angehörten. Auf der grünen Insel waren es katholische Lehrer und Studenten mit working-class-Hintergrund, die der Mobilisierung gegen Ende des Jahrzehnts Vorschub leisteten; in der Eidgenossenschaft wurden die Proteste entgegen der Wahrnehmung der Zeitgenossen sogar fast ausschließlich von jungen Arbeitern getragen.
Zudem lassen sich Unterschiede auch hinsichtlich der Entstehungsbedingungen von "1968" ausmachen. So heben insbesondere Ingrid Gilcher-Holtey und Holger Nehring zum wiederholten Male die Ideologie der Neuen Linken und den Vietnamkrieg als wirkungsmächtigste Faktoren für den Ausbruch der Revolte in Frankreich und Großbritannien hervor. Dagegen arbeitet Louis Vos heraus, dass die Studentenbewegung der 1960er Jahre in Belgien ein flämisch-nationalistisches Movens hatte und zunächst keineswegs die antiamerikanische Haltung der europäischen Genossen in der Vietnamfrage teilte.
Damit widersprechen die Einzelbeiträge dem zeitgenössischen Narrativ von der "Weltrevolution" teils erheblich. Allerdings konstatieren die Autoren mehrheitlich, dass es gerade die Überzeugung der Aktivisten war, Teil eines globalen Ganzen zu sein, die den Protestbewegungen in den einzelnen Staaten ihre Dynamik verlieh. Wie der Schweizer Kulturhistoriker Jakob Tanner treffend formuliert, machte es die globale Gleichzeitigkeit der Ereignisse nämlich erst möglich, "to perceive the many 'small' refusals and contestable actions as part of one fantastic 'Great Refusal' with structure-breaking violence" (103). Diese Wahrnehmung hatte zur Folge, dass die verschiedenen Bewegungen voneinander zu lernen versuchten. Ein bundesdeutscher Exportschlager waren etwa die Kritischen Universitäten, die ihren Weg sogar bis nach Dänemark fanden, wie Thomas Jorgensen herausgefunden hat. Weitgehend bekannt hingegen ist, dass Aktionsformen der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung nach Europa herüberschwappten. Wie national und regional spezifisch diese dann aber adaptiert wurden, zeigt Konstantinos Kornetis für den spanischen Fall: "We shall overcome", den wohl bekanntesten Protestsong des schwarzen Civil-Rights-Movements, intonierten Studenten dort in einer galicischen Version.
Damit sind die Vorzüge des Handbuches allerdings erschöpft. Kritik ist sowohl in konzeptioneller als auch in inhaltlicher Hinsicht anzumelden. Zum einen sind die Beiträge zu sehr auf die Bewegung selbst konzentriert, zum Teil sogar - wie etwa im Falle des Aufsatzes von Klimke - stark auf einzelne Protagonisten fixiert. Statt den Fokus auf kleinere Subkulturen zu richten, hätten die Herausgeber besser daran getan, die jeweiligen Mehrheitsgesellschaften in den Blick zu nehmen. Dieser Ansatz hat schon vor einiger Zeit viel Licht in das Dunkel der "langen 1960er Jahre" gebracht. [1] Zum anderen wäre es gewinnbringender gewesen, die Revolte in den Kontext der Reformära einzuordnen; nur so sind letztlich Aussagen über den Stellenwert von "1968" in den bewegten Zeiten des Umbruchs möglich. Die Gefahr, das Aufbegehren am Ende des Jahrzehnts in seinen Folgen zu überschätzen, ist ansonsten besonders groß. Schon im Vorwort begegnet der Leser daher der apodiktischen Feststellung der Herausgeber, dass "nobody today seriously doubts that European societies were fundamentally transformed as a result of the events of '1968'" (6). Tatsächlich ziehen neuere Studien aber genau das in Zweifel. [2] Leider wird auch der hohe Anspruch, die Transferleistungen der verschiedenen nationalen Bewegungen zumindest in Ansätzen auszuleuchten, nur ungenügend eingelöst. So vermögen die Einzelbeiträge wenig über die Tiefenwirkung der Diffusion von Ideen, Slogans und Protestformen auszusagen. Die Frage nach der Transnationalität der Bewegungen und ihrer Bedeutung für "1968" insgesamt bleibt damit letztlich ungeklärt. Dennoch ist das Handbuch vor allem für jene interessant, die einen schnellen Einstieg in die Thematik suchen oder sich einen Überblick über die wichtigsten Geschehnisse verschaffen wollen. Für rein an der Ereignisgeschichte Interessierte könnte der Band sogar ein unverzichtbares Standardwerk werden.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Arthur Marwick: The Sixties. Cultural Revolution in Britain, France, Italy, and the United States, 1958-1974, Oxford 1998.
[2] Vgl. Christina von Hodenberg / Detlef Siegfried (Hgg.): Wo "1968" liegt. Reform und Revolte in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2006.
Anne Rohstock